Umweltschutz in die Praxis integrieren

Umweltschutz in die Praxis integrieren

Forum
Édition
2023/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21499
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(18):21

Publié le 03.05.2023

Buchbesprechung Geht es dem Klima schlecht, leidet auch der Mensch. In einem neuen Buch werden die vielschichtigen Beziehungen zwischen Medizin und Umwelt beleuchtet. Wertvolle Erkenntnisse für alle Gesundheitsfachpersonen.
Dieses Buch befasst sich eingehend mit Dimensionen, die in der medizinischen Praxis zunehmend an Bedeutung gewinnen und Eingang in die Lehre finden müssen: den vielschichtigen Beziehungen zwischen Medizin und Gesundheitssystem einerseits sowie der Umwelt andererseits. Insbesondere im Hinblick auf die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels und des Biodiversitätsverlusts, durch die wir immer anfälliger werden. Die menschliche Gesundheit hängt bekanntlich von der Gesundheit der Ökosysteme ab. Man spricht von der «Interdependenz des Lebens».
Die menschliche Gesundheit hängt von der Gesundheit der Ökosysteme ab.
© Ivan Shenets / Dreamstime
Der Leiter des Projekts, der Lausanner Professor Nicolas Senn, ist verantwortlich für die hausarztmedizinische Ausbildung. Er hat Untersuchungen zu den Treibhausgasemissionen durch Arztpraxen durchgeführt. Das Buch soll die anstehenden Probleme einordnen und beschreiben. Gemeinsam mit seinen drei Kolleginnen hat er rund 70 Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Fachgebiete aus der Schweiz, Frankreich und dem angelsächsischen Raum zusammengebracht, die für die fünf Teile des Buches rund 40 Kapitel verfasst haben.
Angesprochen werden viele wichtige Themen, darunter die Bedeutung der neun planetaren Grenzen, das «Donut»-Modell nach Kate Raworth, das den Lösungsspielraum zwischen der Garantie sozialer Mindeststandards und der Nichtüberschreitung ökologischer Belastungsgrenzen vorgibt, das «One Health»-Konzept, einschliesslich der gesundheitlichen Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Tier (Zoonosen), sowie sozioökonomische Fragen, auf die unser Landsmann Jakob Zinsstag eingeht. Thematisiert werden auch die «Grosse Beschleunigung», vor allem seit den 1950er Jahren, die W. Steffen et al. untersuchten, Ökosystemleistungen als «Nutzenstiftung der Natur für den Menschen», wachsende Gefahren durch Luftverschmutzung und toxikologische Risiken, Klimaangst oder «Solastalgie» und andere Aspekte der psychischen Gesundheit, ausserdem Migrationsprobleme, der günstige Einfluss von körperlicher Aktivität, Ernährung und regelmässigem Kontakt mit der Natur sowie schliesslich die Nachhaltigkeitswissenschaft im Gesundheitswesen.

Nachhaltigkeit praktizieren

Angesichts der Herausforderungen des Klimawandels müssen Medizin und Gesundheitssystem ihrer Verantwortung gerecht werden und Nachhaltigkeit praktizieren, sich zur Mässigung, ja zur Sparsamkeit verpflichten. Das erfordert schwierige Entscheidungen auf mehreren Ebenen. «Santé et environnement» (zu Deutsch: «Gesundheit und Umwelt») bietet in dieser Hinsicht eine solide Grundlage und beleuchtet vielerlei Aspekte. Derartige Inhalte müssen heute zum Curriculum des Medizinstudiums und zur Ethik der Pflegeberufe sowie aller jungen – aber auch weniger jungen – Fachkräfte gehören.
In der Einleitung wird betont, dass «die Ausserachtlassung gesundheitsrelevanter Umweltfaktoren, deren Einfluss ja vielfach erwiesen ist, in der Gesundheitsversorgung sogar als mangelnde Professionalität eingestuft werden kann». Generell wird klar, dass die Berücksichtigung dieser Faktoren unvereinbar ist mit einem produktivistischen Gesundheitssystem, das auf einem zu streng biomedizinischen Ansatz basiert. Darauf geht der letzte Teil des Buches ein.
Festzuhalten bleibt, dass sich Fachpersonen nicht mehr hinter der früher oft vorgeschobenen Neutralität verstecken können. Heute ist ihr beharrliches Engagement gefordert − im Interesse einer hochwertigen Versorgung, die den Herausforderungen, gewissermassen dem gesellschaftlichen Überleben, angemessen Rechnung trägt. Das schliesst auch eine hinreichende, fundierte Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit bei den Patientinnen und Patienten mit ein. Im Buch heisst es: «Werden Fachpersonen deshalb zu Aktivisten? Sicher nicht. Es geht lediglich darum, die eigene Arbeit anständig zu verrichten.»
Nicolas Senn, Marie Gaille, Maria del Rio Carral und Julia Gonzalez Holguera (Hrsg.) Santé et environnement – Vers une nouvelle approche globale
RMS Editions, 2022
Dr. med. Jean Martin, ehemaliger Waadtländer Kantonsarzt