Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins als Hausarzt

Horizonte
Édition
2022/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20802
Bull Med Suisses. 2022;103(2526):874-876

Affiliations
Dr. med., Hausarzt mit eigener Praxis

Publié le 22.06.2022

Unser Autor hat seine eigene Praxis gegründet. Nie hätte er gedacht, dass er damit einen bürokratischen Hürdenlauf beginnen würde, der ihn an Milan Kunderas ­Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins erinnert. Die Lektüre hat ihn gelehrt, die Herausforderungen des Lebens mit Humor zu nehmen. Und er begann selbst zu schreiben. Seinen Bericht widmet er Gesundheitsminister Alain Berset.
Nach 25 Jahren «Karriere» in diversen Spitälern habe ich mich vor sieben Jahren zur Selbständigkeit entschlossen. Nach der Zeit starrer Hierarchien, der An­onymität der Patienten und kantonaler Zuschüsse bei unbekannten ökonomischen Abläufen verspürte ich das Verlangen nach eigenem Unternehmen. Da wir in der Zentralschweiz zu Hause sind, kamen einige nahe Kantone als Sitz der Praxis in Frage. Aus vielfältigen Angeboten wählten wir den Kanton Zug – einen liberalen, aufgeschlossenen Kanton, fest in der bürgerlichen Hand. «Ihr werdet es als Unternehmen dort einfach haben», meinten unsere Bekannten. «Nur wegen der Heilmittelkontrolle müsst ihr aufpassen», warnten Kollegen.
Und tatsächlich: Mit den Formalitäten ging es schnell und unbürokratisch. Für die Heilmittelkontrolle erstellten wir ein «Werk» Qualitätssicherungssystem der Praxisapotheke (QSS) im Umfang von 45 Seiten. Dieses wurde nach einigen Anpassungen offiziell genehmigt. Wir waren erleichtert!

Abenteuer EDV – geläuterter (L-)User

Unser Vorgänger arbeitete mit Papierakten und warnte uns vehement vor dem Wechsel auf die elektronische Akte. Wir wollten mit dem Zeitgeist mithalten und beschlossen, ein vernetztes, papierloses IT System aufzubauen. Unser Entschluss fiel auf eine etablierte, moderne Praxissoftware. Wir gaben alle unsere Wünsche, Parameter, Voraussetzungen bekannt, entwickelten ein «Pflichtenheft» und unterzeichneten einen detaillierten Vertrag.
Als Projekt-Manager wurde uns ein junger, netter IT- Spezialist zugeteilt. Er sei genügend erfahren, um unsere Installationen erfolgreich durchzuführen. Bei der Arbeit sagte er ständig easy: Wir haben alles im Griff. Tatsächlich konnten wir mit unseren schmucken Computern und dem bunten Praxisprogramm termingerecht starten. Leider währte unsere Freude nicht lange. Am dritten Tag brach das gesamte System zusammen, nichts ging mehr! Unser grauhaariger Vorgänger meinte: «Ich habe euch gewarnt, es wird nur teurer, aber nicht besser.» Gott sei Dank, erkannte unser Software-Hersteller den Ernst der Stunde und schickte uns zwei weitere Senior Experts zur Hilfe. Summa summarum mussten wir unseren Patienten «nur» einen Tag absagen. In den nächsten Tagen mühte sich der junge Spezialist viele Stunden ab, um die aufgedeckten Pro­bleme auszumerzen. Diese seien meistens «easy zu beheben». Tatsächlich, in zwei von drei Fällen gelang es ihm, die Lösung zu finden. Das dritte Problem blieb in der Regel hartnäckig bestehen, dazu kreierte er zwei weitere easy Probleme. Diese schaffte unser Spezialist leider nicht zu beheben, so dass wir gezwungen waren, ihn abzuschaffen.

«Schnittstellen» und besondere Wünsche

Nach bald zwei Monaten konnten wir uns auf unser IT-System meistens verlassen. Nun erreichte uns die Rechnung dafür, diese überstieg die veranschlagten Kosten um 30%, somit kostete unser IT-System einen tiefen 6-stelligen Betrag. Aus den zähen Verhandlungen mit der IT-Firma blieben mir einige Stichworte in Erinnerung. «Komplexität»: Unser System für vier Ärzte sei «unheimlich» komplex, daher die hohen Kosten. Der miserable Ausgang unseres Projekts liege an den «Schnittstellen»: Unser Software-Anbieter könne doch nicht für andere Produkte wie Drucker, Laborgeräte, EKG garantieren. Die Anbindung an diese «fremden» Produkte sei unberechenbar und stelle für jede IT-Firma eine grosse Herausforderung dar. Grundsätzlich hatten wir «zu viele und zu komplizierte Wünsche», wurde ich belehrt.

Heilmittelkontrolle schlägt zu

Ich war echt verdutzt, als ich drei Monate nach dem Start einen eingeschriebenen Brief von dem berüchtigten Heilmittelinspektor in der Hand hielt. Der Einkauf der Medikamente für unsere selbständigen Praxispartner sei falsch organisiert worden. Wir als Praxis AG betreiben «einen Grosshandel mit Heilmitteln», dies sei gesetzwidrig, strafbar und werde ab nächstem Monat von der Behörde nicht mehr geduldet. Die Schliessung der Praxis drohe uns im Falle der Renitenz.
Ich studierte erneut unser QSS – wir machten alles wie offiziell genehmigt. Ich ersuchte um ein direktes Treffen mit dem doktorierten Inspektor. Der Heilmittel­inspektor empfing uns (mit unseren IT-Experten und dem Treuhänder) in seinem Amt. Er teilte uns mit, dass er vor kurzem unser QSS genauer gelesen hatte und auf die Problematik Bestellung der Medikamente gestos­sen war. Jeder Praxispartner müsse individuell bestellen, möglicherweise brauche es getrennte Apotheken! Auf meine Frage hin, wie wir diesen unvorhergesehenen Prozess bewerkstelligen sollen, meinte er, dass es im Kanton Zug genug Consulting-Firmen gäbe. Uns blieben bis zur Deadline vier Tage inklusive Wochenende! Für mich persönlich war dieses Wochenende das heisseste in meiner gesamten beruflichen Karriere. Glücklicherweise gelang es uns, «unsere kriminelle Tätigkeit» in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu stoppen. Die Existenz unserer Praxis war vorerst gerettet!
Der berüchtigte Inspektor wurde übrigens vor kurzem unter ominösen Umständen vom Regierungsrat fristlos entlassen [1].

Nur «ein Häkchen»

Wir bieten den Kunden in unserer Praxis einige private Leistungen an. Diese VVG-Leistungen werden getrennt abgerechnet und die Rechnung direkt an den Patienten gestellt. Diesen «komplexen» Prozess kommunizierten wir rechtzeitig an unseren IT-Partner, und offenbar wurde er mit entsprechender «Schnittstelle» (an MediData) installiert. Wider Erwarten flossen selbst nach drei Monaten keine entsprechenden Zahlungen für die VVG-Leistungen ein. Wir prüften alle Einstellungen, strafften die Fakturierung, kontaktierten MediData – nirgendwo war eine Störung zu finden. Erst als sich mehrere Patienten beklagten, dass sie statt einer Rechnung direkt Mahnung erhalten, wurde es klar, dass wir einen Wurm im System haben. In der Tat wurde nur «ein Häkchen» bei der Programmierung von dem IT-Mann falsch gesetzt. In der Folge, obwohl keine Rechnungen verschickt wurden, bestätigte das System den Versand. Wie dem auch sei, es handelte sich «höchstens um eine von uns nicht ausreichend getestete Individual-Konfiguration». Uns, den Ärztinnen und Ärzten, obliege die Pflicht der Tests und der Abnahme der Software, so der CEO des IT-Unternehmens. Der riesige Aufwand und der Imageschaden gehören offenbar zum lockeren Dasein des Hausarztes.

Arztpraxis ohne Ärzte

Da ich immer mehr graue Haare bekomme, versuchen wir konsequent, unser Ärzteteam zu erweitern. Dies scheint im aktuellen medizinischen Umfeld schwierig bis unmöglich. Eine erfahrene, deutsche Internistin mit Akupunktur-Ausbildung, seit fünf Jahren im Kanton Zürich tätig, passt perfekt zu uns. Für unsere Zuger Behörde aber ein klarer Fall: Absage, da Zulassungs­beschränkung. Ein weiterer Schmerztherapeut aus Luzern: ebenfalls keine Zulassung möglich. Dann eine deutsche Neurologin, seit einer Ewigkeit in Zürich, inklusive mehrerer Jahre als Oberärztin in Balgrist, scheint uns eine «zulassungsfähige» Kandidatin. Zwei Wochen vor ihrem geplanten Beginn kommt die Absage. Diese Dame arbeitete zwar genug lange in «einer FMH-anerkannten Ausbildungsstätte», aber erlaubte sich dabei, schwanger zu werden, was die anerkannte Zeit automatisch verkürzte. Es fehlten zwei (!) Monate – das behördliche Urteil: untauglich! So bleiben wir in der Praxis immer weniger und werden immer älter. Wohin führt das wohl?

Sasis AG – kein Tausendsassa

Doch wir haben Glück: Ein Kollege mit Zulassung für unseren Kanton möchte bei uns in Teilzeit einsteigen, und zwar sofort. Hurra, die erste, wichtigste kantonale Hürde mit unzähligen Formalitäten ist bereits überwunden: Berufsausübungsbewilligung (BAB) liegt vor. Bleibt nur noch kleine Formalität: eine ZSR für den Angestellten, dass er offiziell abrechnen darf. Wir reichen ein entsprechendes Gesuch bei der Sasis AG ein, selbstverständlich mit einer Reihe an Unterlagen, die bereits vom Kanton und anderen Instanzen kontrolliert wurden. Macht nichts, Ordnung muss sein! Jede Behörde führt ein eigenes Register, prüft die Papiere auf Herz und Niere – ist halt das Gesundheitswesen! Der Kollege drängt auf einen baldigen Start, alles ist sorgfältig ­organisiert. Nach zwei Wochen fragen wir per E-Mail bei Sasis an – keine Antwort. Wir probieren es tele­fonisch – vergebens! Auf der Website finden wir die ­Erklärung: Aufgrund der aktuellen Arbeitsstände im Bereich des Zahlstellenregisters sind wir telefonisch nur noch reduziert erreichbar. Verunsichert schicken wir weitere ­E-Mails an die Behörde. Endlich kommt eine knackige Antwort: Wir haben eine Bearbeitungsfrist von 10–12 Wochen ab Erhalt des Dossiers. Auf der Website von Sasis steht hingegen: Umfassende und praxisnahe Abläufe werden bei uns grossgeschrieben. Was macht ­eigentlich diese Behörde 12 Wochen lang mit einer bereits erteilten Zulassung?

Neuer Kanton, alte Gepflogenheiten

Vor kurzem übernahmen wir eine alte Einzelpraxis ohne Nachfolger im Nachbarkanton, in unserem Wohnort. Wo sollen wir denn nach unserer Pensionierung zum Arzt, wenn auch diese Praxis in unserem Wohnort verloren geht? Unter anderem beantragen wir eine BAB für eine Ärztin, die in unserem Kanton bereits 20 Jahre lang tätig war. Offenbar hat der Kanton kein Archiv, da wir wieder bei «Adam und Eva» beginnen. Alle Diplome, Anerkennungen, Zeugnisse müssen im Original her. Nach zwei Wochen meldet sich das Amt: Wir müssen zusätzlich Unterlagen für die OKP- Zulassung einreichen und einer Stammgemeinschaft wegen EPD (elektronisches Patientendossier) beitreten. Die gewünschten Dokumente haben wir rasch zusammen. Thema EPD scheint komplizierter. Unser Kanton unterstützt die Gemeinschaft XSANA. Wir beantragen dort einen Beitritt. Die Antwort von XSANA erreicht uns rasch: Da die Ärztin in eine vorbestehende Praxis einsteigt, benötigt sie keine Teilnahme am EPD. Dies wäre nur bei einer Praxisgründung ab dem 1.1.2022 nötig. Wir helfen der Behörde aus der Patsche und treten vorsorglich der Gemeinschaft bei.
Die Zeit drängt, wann kommt die ersehnte BAB? Die umgehende Antwort des Amtes löst einen leichten Schwindel aus: Sie haben «aber keine Unterlagen gemäss Rubrik OKP eingereicht». Gott sei Dank kommt uns die Post zu Hilfe und belegt, dass unser eingeschriebener Brief vor über einem Monat beim Amt eingetroffen war. Und – wie ein Wunder – tauchen unsere Dokumente auf! Diese waren nicht verschwunden, sondern nur «nicht eingescannt». Super, also auch unser «Nein-Sager»-Kanton ist bei der Digitalisierung angekommen. Schade, dass es das Verfahren um fünf Wochen verlängert. Immerhin ist nach zwei Monaten unser Dossier komplett und werde «inhaltlich geprüft», so der Kantonsarzt. Dass der Entscheid innert dreier Monate vorliegt – kann er uns «in keinem Fall garantieren».

Das letzte Wort

Gemäss der neusten Statistik von FMH [2] gehöre ich zu einem Viertel aller Hausärzte, die über 60-jährig sind und bald abtreten. Ich schaue auf ein erfülltes, spannendes Berufsleben zurück, auch auf die vergangenen sieben Jahre als Hausarzt. Doch wenn die Entwicklung im Gesundheitswesen und insbesondere in der Hausarztmedizin weiter so läuft, wird bald die Art «Hausarzt» eine bedrohte Art – neben den Bienen und den Pandabären.
1 Beobachter, 9. und 25. September 2020.
2 Schweiz Ärzteztg. 2022;103(13):414–9.