Bestrafe einen, erziehe hundert!

Briefe / Mitteilungen
Édition
2021/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.20152
Bull Med Suisses. 2021;102(38):1232

Publié le 22.09.2021

Bestrafe einen, erziehe hundert!

Anfang September war in verschiedenen Medien [1, 2] zu lesen, dass zwei Ärzte, die sich zuvor kritisch gegenüber der Corona-Impfung geäussert und Patienten davon abgeraten hatten, mit Sanktionen zu rechnen hätten, die eine Spannbreite von Verwarnung bis Entzug der Berufsausübungsbewilligung aufweisen würden. Mit denselben Sanktionen hätten kritische Ärztinnen und Ärzte zu rechnen, die man mittels Durchforschens sozialer und anderer Medien ausfindig zu machen versuche. Nach nochmaligem Blick aufs Datum der Veröffentlichung, um allfälligen 1.-April-Scherzen nicht auf den Leim zu gehen, und den Urheber konnte ich sicher sein, im September 2021 und nicht auf der Seite der Arbeiter­zeitung des Zentralkomitees Nordkoreas ­gelandet zu sein. Wo man letztes Jahr einem Kollegen noch Zuwiderhandlung gegen Verordnungen zur Maskenpflicht zum Vorwurf machte und Massnahmen folgen liess, deren Verhältnismässigkeit man diskutieren kann und sollte, besteht hier das Fehlverhalten ­darin, dass «sich Ärzte aufgrund ihrer Ausbildung qualifiziert fühlten, ein Urteil über sämtliche Fachliteratur zu fällen». Obwohl dieses der «Ansicht der Experten widerspräche». Hier scheint es eine Verordnung zu geben, dass Ärztinnen und Ärzte sich nicht frei zu medizinischen Themen äussern dürfen, wenn sie nicht der Meinung «anerkannter Experten» entspricht, die in Bundesbern offenbar bekannt sind. Nicht mal auf Facebook. Ich weiss nicht, wie meine werten Kolleginnen und Kollegen, die diesen Leserbrief lesen, es sehen, aber gibt es in der Medizin eigentlich überhaupt irgendein Thema, zu welchem nicht Viele eine andere Meinung haben, die sie auch begründen können? Und wenn es doch etwas gäbe, was dem nahekommt, ist dieser Konsens dann nicht durch langes Abwägen des Dafür und Dawider von «anerkannten Experten» entstanden, aus der Akzeptanz dessen, dass das meiste unseres Wissens Arbeitshypothesen sind, momentaner Stand des Irrtums. Und gibt es nicht gerade im Zusammenhang mit der Coronakrise, den getroffenen Massnahmen und der Impfung sehr viele offene Fragen, die zu klären sind? Gibt es nicht auch hier Untersuchungen, die sehr wohl eine kritische Haltung stützen können, und gilt es diese nicht zu berücksichtigen? Ist eine kritische Haltung nicht ur-medizinisch? Falls es ein Ziel gibt, welches wichtiger ist als die freie Meinungsäusserung, wer bestimmt dieses Ziel und v.a. auch die Massnahmen, die zu diesem Ziel führen? Ich hoffe, dass wir Ärztinnen und Ärzte, geführt durch unseren Verband, in dieser Sache und v.a. für die beiden Kollegen zusammenstehen, egal wie wir zu den aktuellen Massnahmen stehen. Denn offenbar geht es nicht nur um diese.
Dr. med. Thomas Glinz, Roggwil
1 Kanton Bern sanktioniert zwei Ärzte (Der Bund online vom 4.9.2021).
2 Wenn der eigene Hausarzt Impfskeptiker ist (Der Bund online vom 31.8.2021).