Anspruch an die integrale Ausbildung zum Humanmediziner

Briefe / Mitteilungen
Édition
2021/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.20133
Bull Med Suisses. 2021;102(36):1170

Publié le 08.09.2021

Anspruch an die integrale Ausbildung zum Humanmediziner

Professor Steurer schlägt eine tiefgreifende Reform vor mit Spezialisierung bereits im Master-Studium. Dieser Vorschlag ist nicht neu und ich möchte erneut die Gelegenheit ergreifen, die zugrundeliegenden Annahmen zu hinterfragen [1, 2].
Argument 1: Die Aus- und Weiterbildung dauere zu lange.
Das Durchschnittsalter von Ärztinnen und Ärzten beim Erhalt des ersten Facharzttitels 2020 mit Erhalt des eidg. Diploms ≤26 Jahre und Weiterbildungsdauer ≤10 Jahre betrug 33,4 Jahre [3]. Warum dies, abgesehen von der erschwerten Familienplanung, ein Problem sei, bleibt für mich unbeantwortet, da der Vergleich mit anderen Berufen kein ausreichendes Argument darstellt.
Eine Schweizer Studie setzte sich mit Gründen einer längeren Weiterbildungsdauer ­auseinander [4]. Nebst der Elternzeit wurden häufig zusätzliche persönliche Gründe wie «Teilzeit aus privaten Gründen», «Forschung», «Wechsel des angestrebten Facharzttitels» und ferner «unbezahlter Urlaub und Reisen» angegeben. Als der zugrundeliegende Faktor wurde in der Studie mitunter der Wandel professioneller ärztlicher Leitbilder genannt. Sofern das Durchschnittsalter beim Titel­erwerb als Problem thematisiert wird, muss berücksichtigt werden, welche Umstände die Dauer der Weiterbildung beeinflussen.
Argument 2: Es werde immer noch «die eine ärztliche Fachperson» ausgebildet (die es nicht mehr gebe).
Weshalb nebst der Zahnmedizin nicht auch weitere Disziplinen (bspw. Fusschirurgie in Analogie zum Doctor of Podiatric Medicine in den USA) die Möglichkeit haben sollten, eine eigenständigere Ausbildung zu bestimmen, lässt sich nicht kategorisch verneinen. Letztlich helfen uns aber solche Überlegungen nicht weiter, wenn es darum geht, was die Gesellschaft vom Ärzteberuf grundsätzlich erwartet.
Ich meine, dass auch zukünftig erwartet wird, dass der Ärztestand mit Erlangen des eidg. Diploms die Fähigkeit aufweist, sich in den gängigen Erkrankungen des Menschen und ihren biopsychosozialen Folgen zurechtzufinden, auch wenn er im beruflichen Alltag nicht mit all diesen Erkrankungen konfrontiert sein mag. Ob dies der «medizinischen Allgemeinbildung» gleichzusetzen ist, vermag ich an dieser Stelle auch nicht abschliessend zu beantworten. Die vorgeschlagene Reform würde diesem Anspruch jedoch zuwiderlaufen.
Im Berufsalltag erlebe ich sehr wohl, wie Kenntnisse, die über den eigenen Fachbereich hinausgehen, Einfluss haben auf die Qualität der Patientenbehandlung und der multidis­ziplinären Zusammenarbeit. Deshalb störe ich mich daran, wenn für die spätere Berufsausübung nicht aktiv benötigtes Wissen (und Fertigkeiten) als «irrelevant» bezeichnet werden.
Das integrale Verständnis des Menschen als Organismus und seiner Erkrankungen sollte auch weiterhin Ziel der Ausbildung zum Humanmediziner sein. Wir sollten nicht damit beginnen, diesen Anspruch unter einzelnen ärztlichen Berufssparten aufzuteilen. Das Medizin­studium muss auch in Zukunft eine umfassende Grundausbildung für alle Ärzte fordern und garantieren.