Ein Doc mit Flügel(n)

Horizonte
Édition
2021/39
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.20126
Bull Med Suisses. 2021;102(39):1281-1282

Affiliations
Freie Wissenschaftsjournalistin

Publié le 28.09.2021

Er ist der Typ «Hansdampf in allen Gassen»: Wolfgang Ellenberger, Pianist und ­Psychiater. Auf Schloss Sumiswald will er künftig Klavierunterricht für Ärztinnen und Ärzte anbieten – und damit ihre Work-Life-Balance verbessern.
«Als ich gesehen habe, was hier alles angeboten wird, wusste ich: Hier bin ich zu Hause.» Dieses «Hier bin ich zu Hause» klingt wie ein Ausrufezeichen, ein Statement, die Zukunft an die Hand zu nehmen. Es ist der Satz eines 66-jährigen Mediziners und Pianisten, der beim Aussprechen dieser Zahl sofort leicht ironisch jubilierend Udo Jürgens anstimmt («Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an»). Der Ort, wo er es anstimmt: Schloss Sumiswald. Das imposante Bauwerk samt ­Kapelle – einst vom Deutschen Ritterorden erbaut – thront auf einer Nagelfluh über dem Flüsschen Grünen in den sanften Hügeln des Emmentals.
Bis 2017 war hier nach einer wechselvollen Geschichte rund 35 Jahre lang ein Alters- und Pflegeheim unter­gebracht. Heute beherbergt der mittelalterliche Bau mit seinen Repräsentationsräumen und verwinkelten Ecken ein Bed and Breakfast, verschiedene Heiltherapiepraxen, Künstlerinnenateliers, ein Kosmetikstudio und einen Haarsalon.
Auch Wolfgang Ellenberger residiert hier. Sein Reich im Schloss ist überschaubar: Ein kleiner Büroraum mit einem E-Piano, einem Schreibtisch und einer Matratze in der Ecke. Durchs Fenster fällt der Blick ins Tal.
Wolfgang Ellenberger.Foto: zVg

Klavierstunden für Ärztinnen und Ärzte

Hier also will «der bunte Hund», als der er sich selbst bezeichnet, ein neues Kapitel seines Lebens schreiben und Medizinerinnen und Medizinern Klavierunterricht geben. Mit diesem Vorhaben setzt er fort, was er vor vielen Jahren in anderen Ländern begonnen hat: Seit 1991 führt Ellenberger sogenannte Musikwochen durch, in denen er Ärztinnen, Ärzten und anderen ­Gesundheitsprofis blockweise über mehrere Tage ­hinweg Klavierstunden gibt. Zunächst tat er das in Deutschland, später auch in Wien und London.
Die musizierenden Gesundheitsfachleute haben sich zum Teil sogar auf die Bühne getraut: Im Jahr 2010 brachte Wolfgang Ellenberger im Wilhelma Theater Stuttgart mit 80 «Docs» Mozarts Zauberflöte auf die Bühne. Es war das erste Ärzte-Heiler-Opernensemble weltweit mit Mitgliedern aus 15 Ländern.
Von diesem Highlight erzählt er heute noch begeistert: Ellenberger startet seinen Computer, projiziert eine Youtube-Aufzeichnung der Produktion auf die Wand, zeigt auf die einzelnen Darstellerinnen und Darsteller («ein Zahnarzt», «eine Dermatologin»), erklärt Licht­effekte, stimmt in die Musik ein – taucht dabei in seine eigene Welt ein und scheint in Gedanken weit weg von Sumiswald.
Kaum verschwindet die Aufnahme, tauchen andere Bilder auf der Wand auf. Der musizierende Arzt holt ein nächstes Ereignis aus der Vergangenheit in die alten Gemäuer im Emmental – und dann noch eines und noch eines: Es hat etwas Atemberaubendes, wenn er aus seinem Leben erzählt.

Mit dem Herzen Musiker, aus Vernunft Mediziner

Als jüngstes von vier Kindern wächst Wolfgang Ellenberger in Hamburg-Harburg in einem Akademikerhaushalt auf, eifert seinen Geschwistern nach und erhält mit neun Jahren Klavierunterricht. Es zeigt sich, dass der Junge Talent hat. Schon als 14-Jähriger darf er durch die Vermittlung seines Lehrers mit den ­Hamburger Symphonikern Haydn spielen. «Da übst du, dass die Schwarte kracht», sagt er. Das Üben lohnt sich. Noch vor dem Abitur bekommt er einen Studienplatz an der Hochschule für Musik Hamburg. Weil seine Eltern finden, er sollte einen vernünftigen Beruf erlernen, bewirbt er sich ausserdem um einen Studienplatz in Medizin. Auch den erhält er.
Das Parallelstudium hat allerdings seinen Preis: «Ich habe mich schubweise aufs eine und dann wieder aufs andere konzentriert», sagt er. Dadurch habe er drei ­Semester länger bis zum zweiten Staatsexamen gebraucht. Danach ist ihm klar: Sein Herz schlägt für die Musik. Nach dem Studium reist er während 18 Jahren als freischaffender Pianist und später auch als Dirigent um die Welt. Während vier Monaten verwirklicht er sich dabei als Strassenmusiker mit einem einfachen Klavier den Traum von Amerika. Bilder von damals zeigen ihn als bärtigen Typ mit Jeans, ein Aussteiger auf Zeit.
Zurück in Europa, setzt er wieder auf Frack – auch aus­serhalb des klassischen Kulturbetriebs: Auf einer seiner Websites ist er zwischen zwei Luxusautos zu sehen. Er tritt in Autohäusern genauso auf wie in barocken Konzertsälen. Und er ist sein eigener Tourlogistiker: Wolfgang Ellenberger kauft eine Flügeltransportraupe und lässt sich eine Hydraulik dazu konstruieren, mit der er ohne fremde Hilfe einen Bösendorfer-Flügel vom Transporter in einen Konzertsaal rollen und in acht Minuten aufbauen kann. Dieses Husarenstück wird zu seinem Markenzeichen, die Medien berichten darüber.

Held oder Suchender?

Fast scheint es, als ob es für einen wie Wolfgang Ellenberger keine Grenzen gibt. «Ich spüre, dass ich diese Dinge tun kann, also tue ich sie», kommentiert er lakonisch. Es hat denn auch etwas von einer Heldenerzählung, wenn er die Episoden seines Lebens aufzählt. Aber es ist kein strahlender Held, der da vor einem steht, im leicht zerknitterten weissen Hemd, die ergrauten, langen Haare nach hinten gebunden. Eher ein Suchender. Einer, der öfter mal «aus der Not eine Tugend gemacht hat», wie er sagt. So wie ums Jahr 2000, als die Weltwirtschaftskrise den Kulturmarkt erschütterte. Für Ellenberger wurde es finanziell schwierig.
Also besann sich der Musiker auf seine Approbation, schloss die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin in Deutschland ab und ist bis heute in Zürich tätig. Mit seinen 66 Jahren steht er kurz vor dem Abschluss als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH und setzt bei seiner Arbeit auf Verhaltens- und Musiktherapie.
Und jetzt also Schloss Sumiswald. Schon bald könnte das Bed and Breakfast im Schloss Ärztinnen und Ärzte beherbergen, die in die Klaviertasten greifen wollen. Termine stehen bis Ende 2022 fest, damit die Teilnehmenden ihre oft langfristige Dienstplanung berücksichtigen können, anfangs zweimal pro Jahr. Auf einem Rundgang durch das Hotel zeigt Ellenberger, wo die Übungsinstrumente stehen werden. Der Unterricht soll aber im Musikhaus Krompholz in Bern stattfinden, 35 Kilometer von Sumiswald entfernt, erreichbar mit einem Shuttle-Service. Es ist ein Rundum-sorglos-Paket, das Ellenberger seinen Kolleginnen und Kollegen bieten will. Warum er das tun möchte? «Der Arztberuf ist einer der verrücktesten Berufe überhaupt, weil Ärztinnen und Ärzte in Tabu­zonen vordringen und gefordert sind, ganzheitlich zu denken», sagt er und ergänzt: «Viele ruinieren dabei ihre eigene Gesundheit.» Dem will er entgegenwirken und einen Raum schaffen, in dem Medizinerinnen und Mediziner sich mit anderen austauschen und zu einer besseren Work-Life-Balance finden.

Der Lebenssinn: Verstanden und geliebt werden

Diese Balance scheint der Mediziner und Musiker selbst noch zu suchen: Zurzeit pendelt Ellenberger, der seit 2011 mit Unterbrüchen in der Schweiz lebt, zwischen seinem Wohnsitz in Zug, seinem Job in einer psychiatrischen Praxis in Zürich und seinem Herzensprojekt in Sumiswald.
Wolfgang Ellenberger, zweifach geschiedener Ehemann und fünffacher Vater, will noch mal etwas reissen. Ist er ein Getriebener? Mit der Frage kann er offensichtlich nicht viel anfangen, ist aber zu freundlich, sie einfach abzutun. Stattdessen sagt er: «Ich ruhe in mir selbst.» Und dann gibt er doch noch eine Antwort auf die Frage, was ihn antreibt. «Letztlich», sinniert er, «besteht der Lebenstrieb doch darin, verstanden und geliebt zu werden.»
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