Unbeirrt über alle Hürden

Tribüne
Édition
2021/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.20104
Bull Med Suisses. 2021;102(38):1249-1250

Affiliations
Freier Journalist

Publié le 22.09.2021

Wegen der Arbeit ihres Mannes kam Dr. Iclal Keskinaslan aus der Türkei in die Schweiz. Eine Stelle als Gastärztin war ihre Chance, in der Augenheilkunde Fuss zu fassen. Alle nötigen Diplome zu bekommen kostete sie zwar viel Schweiss. Doch es lohnte sich: Heute führt sie ihre eigene Praxis in der Basler Innenstadt.
Als Iclal Keskinaslan ihre Facharztprüfung ablegen wollte, erlebte sie eine böse Überraschung. Drei Jahre lang hatte sie als Assistenzärztin in der Augenklinik des Universitätsspitals Basel gearbeitet; das Fach­diplom sollte ihre beruflichen Möglichkeiten erweitern. «Doch die Behörden teilten mir mit, dass ich zu der Prüfung nicht zugelassen sei», sagt Keskinaslan – und hinter der Corona-Schutzmaske, die sie beim Gespräch trägt, zeichnet sich ein Lächeln ab.
Damals, im Jahr 2009, war ihr nicht zum Lachen zumute. Der Grund für die Nichtzulassung lag in Keskinaslans Herkunft. In der Türkei geboren, wuchs sie in Deutschland auf und kehrte später mit ihrer ­Familie wieder in die Türkei zurück. Dort studierte sie Medizin und schloss als Fachärztin für Allgemein­medizin ab. Als ihr Mann ein Jobangebot eines Basler Pharmakonzerns bekam, zog die Familie in die Schweiz.
In Basel bot sich Keskinaslan die Möglichkeit, als Gastärztin ein halbes Jahr lang in der Augenklinik des Unispitals zu arbeiten. «Das war zwar unbezahlt, aber ich bin noch heute dankbar, dass ich diese Chance ­erhielt», sagt sie. «Denn so konnte ich mich nicht nur in ein für mich neues medizinisches Fachgebiet einarbeiten, sondern kam auch ins Gesundheitssystem hinein und lernte Kolleginnen und Kollegen kennen.»
Für das Universitätsspital war die Ärztin aus der Türkei ganz offensichtlich ebenfalls ein Gewinn. «Als sie sahen, dass ich tüchtig war, boten sie mir eine Stelle als Assistenzärztin an», erzählt Keskinaslan. Möglich war dies, weil ihr türkisches Ärztediplom als temporäre Zulassung galt. Das Wörtchen «temporär» kümmerte Keskinaslan damals kaum – bis sie eben die Fachprüfung ­ablegen wollte und man ihr beschied, dass die Gültigkeit ihres Diploms abgelaufen sei.
Weil ihr Diplom nicht anerkannt wurde, hat Dr. Iclal Keskinaslan kurzerhand das Schweizer Staatsexamen nachgeholt.

Mann und Tochter in die Ferien geschickt

«Eigentlich gab es nun zwei Möglichkeiten», sagt Keskinaslan. «Ich konnte entweder ein Leben lang Assistenzärztin bleiben, dafür hätten meine Fähigkeitsausweise offenbar gereicht. Oder ich konnte wie mein Mann in die Pharmaindustrie wechseln.» Keskinaslan wählte die dritte Option: Sie beschloss, das Schweizer Staatsexamen zu machen. Weil sie weniger als fünf Jahre als Ärztin in der Schweiz gearbeitet hatte, bekam sie keinerlei Erleichterungen, sondern musste sämt­liche Prüfungen ablegen. «Ich schickte meinen Mann und meine Tochter in die Ferien und lernte sechs ­Monate lang», erzählt sie und schmunzelt wieder.
Der Aufwand lohnte sich: Keskinaslan bestand das Staatsexamen genauso wie ein Jahr später die ophthalmologische Facharztprüfung in Paris – und bald darauf legte sie eine Dissertation nach. Sechs Jahre lang arbeitete sie in einer grösseren Privatklinik für Augenheilkunde als Oberärztin für Ophthalmologie und ­Ophthalmochirurgie, bis sie 2018 beschloss, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. «Ich treffe gerne meine eigenen Entscheidungen, zum Beispiel welche Behandlungen ich vornehme oder wann ich Ferien mache», erzählt sie. «Als mich eine Augenärztin anfragte, ob ich ihre Praxis in der Stadt Basel übernehmen wolle, war das eine Gelegenheit, da ich so auch ­einen Kundenstamm übernehmen konnte.»
Ein Vorteil war dabei zum einen ihre Mehrsprachigkeit: Zwar seien Schweizerinnen und Schweizer die Mehrheit ihrer Patientinnen und Patienten, aber sie behandle – neben anderen Nationalitäten – natürlich auch viele Türkinnen und Türken. Zum anderen hatte Keskinaslan – noch in der Türkei – auch ein MBA-­Studium absolviert. In der Klinik sei es für sie nicht möglich gewesen, Medizin und Verwaltung zu kombinieren. Nun, in der eigenen Praxis, nützt sie ihr Management-Know-how: Sie erledigt Arbeiten wie die Buchhaltung gleich selbst. «Ich finde es wichtig, mir in jedem Bereich das Wissen bis in die Tiefe zu holen.» Nach drei Jahren Selbständigkeit und nachdem sie kürzlich die Praxis innerhalb Basels an eine zentralere Lage mit moderneren Räumlichkeiten verlegt hat, sei aber der Zeitpunkt gekommen, bestimmte Aufgaben abzugeben.
Denn, der administrative und bürokratische Aufwand in der Schweiz sei gross. Das Schweizer System regle viel strikter als das türkische, welche Behandlungen sie als Praxisbetreiberin überhaupt vornehmen dürfe. Und punkto Abgeltungstarife gebe es keine lang­fristige Sicherheit. Sie müsse sich stets selbst auf dem Laufenden halten, um zu wissen, was gelte und was es für Neuerungen gebe. Hier, sagt sie, könnten Fachorganisationen vielleicht noch etwas mehr Unterstützung anbieten.

Mehr Zeit für die Patientinnen 
und Patienten

In anderen Bereichen wiederum gebe das Schweizer Gesundheitssystem der Ärzteschaft durchaus seine Freiheiten. In der Türkei sei der Zeitdruck grösser, erzählt sie. «Man untersucht und behandelt. Für etwas anderes bleibt kaum Zeit, wenn man 20 Konsultationen pro Stunde durchbringen muss.» In der Schweiz könne man mehr mit den Patientinnen und Patienten sprechen und ihnen etwas erklären, was auch erwartet und geschätzt werde. «Das sollte so bleiben, auch wenn das Gesundheitswesen unter Kostendruck steht. Denn es ist wichtig.»
Sorgen bereitet Keskinaslan, dass immer mehr Kliniken und Praxen von Investoren übernommen würden. So entstehe eine Marktmacht, die es eigenständigen Praxisbetreibenden in Zukunft schwer machen könnte, fürchtet sie. Auch dass die Behörden immer öfter einst Augenärztinnen und Augenärzten vorbehaltene Untersuchungen für Optometristinnen und Optometristen zulassen, beobachtet sie mit einem gewissen Argwohn.
Insgesamt aber, das merkt man im Gespräch, fühlt sich Iclal Keskinaslan in der Schweiz äusserst wohl. Sie sei nicht nur damals von der Augenklinik des Universitätsspitals Basel, sondern ganz allgemein mit offenem Herzen aufgenommen worden, sagt sie. Medizinerinnen und Mediziner seien sowieso «eine tolle Truppe». Aber auch von den Patientinnen und Patienten spüre sie grosse Wertschätzung. Und dass die Schweizer Behörden ihr damals zur Erlangung des Facharztdiploms nicht gerade den roten Teppich ausrollten, dafür hat sie Verständnis. «Auch andere Länder kennen einen solchen Schutz für einheimische Ärzte.» Und gerade wenn man ein derart hohes Lohnniveau habe wie die Schweiz, sei es verständlich, dass man Massnahmen ergreife, um den Qualitätsstandard auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten. Denn wer, wie Iclal Keskinaslan, Fachwissen und Biss mitbringt, den halten auch hohe Hürden nicht auf.
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