Premio Pusterla Junior 2021, 3. Platz

Entscheidung für ein Leben

Horizonte
Édition
2021/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.20042
Bull Med Suisses. 2021;102(34):

Affiliations
Medizinstudentin, Universität Zürich

Publié le 25.08.2021

Wenn mich jemand nach meinem mehrmonatigen Pflegepraktikum in Tansania fragt, antworte ich immer, wie spannend und eindrücklich alles war. Bei Interesse erzähle ich auch von unterschiedlichen Begegnungen oder Erlebnissen. Vieles behalte ich jedoch für mich, denn gewisse Situationen, Entscheidungen und Verhaltensweisen sind hier in der Schweiz, wo die medizinischen Ressourcen teilweise endlos erscheinen, schlicht und einfach nicht erklärbar. Handlungen und Probleme, welche in Entwicklungsländern alltäglich sind, sind hier nicht nachvollziehbar. Nichtsdestotrotz hallen einige Erlebnisse nach und beschäftigen mich noch heute. Dazu gehört das tragische Schicksal des «Sternenmädchens» Laryana.
Mein Alltag in Afrika teilte sich in zwei Welten auf, morgens unterrichtete ich Schulkinder zwischen vier bis sieben Jahren, und nachmittags arbeitete ich als Krankenpflegerin in einem Krankenhaus. So wie auch an diesem Tag.
Ich beginne wie gewohnt meine Nachmittagsrunde durch das Krankenhaus. Doch irgendwie kann ich mich nicht richtig konzentrieren, denn meine Gedanken schweifen immer wieder zu einem kleinen Mädchen ab, das an jenem Tag nicht in meinem Schul­unterricht erschienen ist. Eigentlich ist dies nichts Verwunderliches, da ab und zu Kinder fehlen. Und doch bin ich besorgt, denn man hört immer wieder ­Geflüster über den familiären Hintergrund dieses Mädchens, sie kommt auch öfter mit Blessuren in die Schule. Trotz allem versprüht sie immer pure Lebensfreude im Klassenzimmer und besitzt eine Wissensgier nach allem, was sie sich nicht selbst erklären kann. Besonders fasziniert ist sie vom Mond und den Sternen, daher nennen wir Teacher sie auch Laryana, «unser Sternenmädchen», denn genau das bedeutet ihr Name in der Landessprache Suaheli.
Gerade überlege ich mir, wie ich den Kindern unser Sonnensystem näherbringen könnte – vielleicht ein Sternenmobile basteln? –, da werde ich auf einmal jäh aus meinen Gedanken gerissen, denn ein Schrei zerschneidet die Luft. Am Eingang des kleinen Krankenhauses stehen Mitglieder der Dorfgemeinschaft, sie tragen eine Frau mit Hilfe eines Lakens. Die Leute haben offenbar einen weiten Weg hinter sich, denn ihre Kräfte haben nachgelassen, und sie schleifen die Frau nur noch hinter sich her. Was mir sofort ins Auge sticht, sind die Verbrennungen der Frau, ganz offensichtlich schwerste Verbrennungen – nicht in der Art, als hätte sie sich an heisser Flüssigkeit verbrannt, sondern tiefe Fetzen von Haut, die sich wegschälen und verkohlt aussehen. Eine Begleitperson hat ein in Tücher gewickeltes, ohnmächtiges Kind in den Armen: Laryana, unser Sternenmädchen, auch sie, wie ihre Mutter, von tiefen Verbrennungen gekennzeichnet, und so ­kollidieren meine beiden Welten auf schreckliche Weise.
Die medizinische Faktenlage ist eindrücklich: Beide Körper haben bereits viel Wasser verloren, was umgehend eine intravenöse Verabreichung von Flüssigkeit erfordert. Bei der Mutter vermuten wir eine Schädigung der Lunge, da sie nicht richtig atmen kann und mindestens dringlich Sauerstoff braucht. Das Kind driftet immer wieder von einem Wach- in einen Ohnmachtszustand ab. Seine Verbrennungen sind sehr ­verdreckt und müssen dringend gereinigt und versorgt werden. Welche Grade von Verbrennungen die beiden vom Feuer davontragen, ist nicht ermittelbar, denn Tochter und Mutter sind immer noch von einem Laken bedeckt, welches nicht abgenommen werden darf, da sie darunter beide nackt sind und in ihrer Kultur die öffentliche Entblössung einer Frau nicht akzeptiert wird. Somit bleiben uns für eine Einschätzung nur die Körperteile, welche sichtbar bleiben dürfen. Mit geschlossenen Augen sehe ich noch heute den rechten Arm der Mutter mit den tiefen Verbrennungen. Neben schwärzlich verfärbten, verkohlten Muskeln und Sehnen sind auch Knochen sichtbar. Das Mädchen ist weniger betroffen, an den Armen ist die Haut gerötet und angeschwollen, schlimmer sieht es dagegen mit ihren Beinen aus, ihre einst zarte Kinderhaut erscheint nun lederartig und weist eine weissliche Verfärbung auf.
Die zwei Pfleger und ich machen uns schnell daran, die Frau und das Kind auf Liegen zu transportieren. Kurz danach trifft auch der Arzt ein, betrachtet mit seinem geschulten Auge das Geschehen und steuert umgehend den Schockraum an, wir eilen ihm mit den beiden Patientinnen nach. Wir wollen schon Mutter und Kind in den Raum schieben, als sich der Arzt zu uns umdreht, den Kopf schüttelt, einen Finger hebt und in die Richtung der Mutter zeigt. Womit er uns klar signalisiert, dass er nur eine Person behandeln würde, und zwar die erwachsene Frau und nicht das junge Mädchen. «Wie kann er nur, reine Willkür!», schiesst es mir durch den Kopf.
Instinktiv will ich aufschreien, denn Laryana soll doch behandelt werden. Ich kann nicht anders, als vor meinem inneren Auge all die Situationen zu sehen, die ich in meinen fast zwei Monaten hier schon mit ihr erleben durfte. Wie stolz sie auf sich war, als sie auf unserer selbstgemalten Weltkugel Afrika erkannt hatte oder zum ersten Mal ihren Namen richtig schreiben konnte.
Laryana ist doch nur ein siebenjähriges Kind, wie kann es also fair sein, dass man ihr die beste Chance, ihr ­Leben zu retten, verweigert?
Das Hauptproblem für den Arzt ist ersichtlich, es gibt genau einen Platz im Schockraum, und somit ist es ihm nur möglich, eine Patientin umgehend zu behandeln. Beide Patientinnen brauchen mehr als eine einfache Behandlung mit kaltem Wasser, und alleine für die Betreuung einer Person würden die Ressourcen sehr knapp werden. Aber warum soll die schwer verbrannte Frau den Vorrang haben und nicht das weniger stark verletzte Kind? Sind nicht beide Leben gleich viel wert, gibt es keine Gleichberechtigung? Und kann man die bestehenden Ressourcen nicht so einsetzen, dass das Leben beider eine Chance hat? Mehr noch: Wie kann es sein, dass sich eine Einzelperson über die Einschätzung der Prognose und die Güterabwägung ihrer Patientinnen hinwegsetzt?1
Ich zweifle keinen Moment daran, dass man bei uns in der Schweiz in einer Situation wie der vorliegenden mit allen verfügbaren Mitteln um das Überleben beider gekämpft hätte. In einem Entwicklungsland in Afrika sieht die Realität aber anders aus. In der Entscheidungssituation um die kleine Laryana galt es, die knappen Ressourcen, die suahelische Kultur und die lokalen Konventionen zu berücksichtigen, nicht die europäischen. Meine diesbezüglichen Kenntnisse sind zu gering, um alles genau nachvollziehen zu können. Ich möchte trotzdem versuchen, den Behandlungsentscheid unter Berücksichtigung der suahelischen Sitten zu analysieren.
Das Mädchen hat sein ganzes Leben noch vor sich, zudem ist sie in einem Programm eingeschult worden, welches dafür bekannt ist, Schülerinnen und Schülern die Ausbildung zu finanzieren. Wer weiss also, was so ein einzigartiges Mädchen wie Laryana noch alles in ihrem Leben erreichen könnte?
Die Frau ist schwerverletzt und würde ohne direkte Hilfe sterben. Sie würde fünf Kinder im Alter von eins bis sieben Jahren zurücklassen. Der Vater der Kinder ist Choleriker und, wie hier meist üblich, nicht für die Versorgung des Nachwuchses zuständig. Somit wären die Kinder grösstenteils auf sich selbst gestellt. Dar­über hinaus muss der soziokulturelle Hintergrund berücksichtigt werden: In Tansania sind die spärlichen medizinischen Möglichkeiten grösstenteils auf Erwachsene ausgerichtet, nicht auf Kinder. So auch in diesem Krankenhaus.
Die Kinder sind von ihrer Mutter abhängig, sie können noch nicht für sich selber sorgen, und ihre Zukunft ohne ihre Mutter wäre unklar. Dies trifft genauso auf Laryana zu. Auch wenn sie in der vorliegenden Situation die primäre Behandlung erhalten sollte und als Halbwaise überlebt, wäre ihre Lebensperspektive äusserst ungewiss, ja vielleicht sogar aussichtslos.
Bei der Mutter wäre all dies weniger einschneidend. Ihre soziale Zukunft wäre weniger fragil, und ihre Chancen, für sich selber sorgen zu können, wären realistischer. Denn als erwachsene Frau würde sie auch von ihrer Dorfgemeinschaft und potenziell von ihrem Ehemann unterstützt werden. Bei einem halbverwaisten Mädchen wäre dies aber nicht der Fall. Besonders weil das Mädchen seiner Familie und Gemeinschaft nicht direkt etwas zurückgeben könnte und die familiären finanziellen Mittel nicht genügen würden, um ein Kind durch eine solche Situation zu bringen, gerade auch längerfristig, wenn es mit allenfalls schweren gesundheitlichen Folgen und Einschränkungen überleben würde. Die Väter fühlen sich in den meisten Fällen nicht dazu verpflichtet, Geld oder auch persönlichen Aufwand in ihre Kinder zu investieren, schon gar nicht in ein kleines «nutzloses» invalides Mädchen.
In Tansania, wo medizinische Ressourcen weitgehend fehlen und mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, ist nicht jedes Leben gleich wertvoll. Was hier zählt, ist der langfristige Nutzen für die Gesellschaft. Ein siebenjähriges Mädchen ist leichter ersetzbar als eine Erwachsene. So gesehen erscheint der fast willkürlich wirkende Entscheid des Arztes wohl irgendwie «richtig». Der Entschluss entspricht vermutlich nicht nur seiner persönlichen Überzeugung, sondern ganz einfach den suahelischen Gepflogenheiten. Und doch stellt man sich die Frage: War es ein gerechter Entscheid, welcher einer ethischen Analyse standhält? Inwiefern darf, soll und muss Gerechtigkeit als relativ, kontext- und kulturabhängig definiert und verstanden werden?
Diese Frage bleibt für mich nach wie vor offen, denn ich wünsche mir auch heute noch, dass die Gegebenheit genau analysiert worden wäre, bevor ein Entschluss fiel, der fatale Folgen hatte. Denn Laryana erlag wenige Stunden nach ihrer Einlieferung ihren Verletzungen. Auch die Mutter verstarb in den nächsten Tagen. Unser Krankenhaus war nicht für eine Behandlung, welche die Frau gebraucht hätte, ausgerüstet. In einem Gespräch mit den Pflegefachpersonen erfuhr ich später, dass man, egal in welchem Zustand die beiden gewesen wären, immer die reproduktionsfähige Frau bevorzugt hätte und nie das Mädchen. Anders wäre es gewesen, wenn es sich nicht um ein Mädchen, sondern um einen Knaben gehandelt hätte. Ausserdem wurde mir erzählt, dass es wohl der Ehemann war, der in einem seiner Wutanfälle das Feuer in der Fami­lienunterkunft gelegt hatte. Die zurückbleibenden Kinder konnten glücklicherweise bei der Schwester der Verunglückten unterkommen.
Lange Zeit machte mich Laryanas Geschichte hoffnungslos und hilflos. Ich zweifelte meinen Berufswunsch als Ärztin stark an. Ich wollte stets Menschen helfen. Nun weiss ich, dass es nicht immer in den eigenen Händen liegt, ob einem Menschen geholfen werden kann oder nicht, jedoch möchte ich als Ärztin meinen Patientinnen und Patienten immer beistehen. So wie ich es auch für Laryana tun durfte. Denn in ihren letzten Momenten war ich es, die ihre Hand hielt, in ihre grossen braunen Augen schaute und dem Sternenmädchen all die Geheimnisse des Universums ins Ohr flüsterte.
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