Siegertext des Premio Pusterla Junior 2021

Danke, dass du anders bist

Horizonte
Édition
2021/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.20040
Bull Med Suisses. 2021;102(34):1110-1111

Affiliations
Medizinstudentin, Universität Zürich

Publié le 25.08.2021

Ein Kind zu bekommen ist für viele Menschen einer der schönsten Momente im Leben. Das eigene Kind, so sagt man doch, liebt man von ganzem Herzen, egal wie es aussieht oder was später mal aus ihm wird. Mit diesem Anspruch stossen Eltern jedoch manchmal an ihre Grenzen. Macht man nicht alles dafür, damit seine Kinder möglichst erfolgreich werden? Ergreift man nicht jede noch so kleine Chance, um sie der gesellschaftlichen Norm anzupassen? Und handeln diese ­Eltern etwa nicht aus Liebe zu ihrem Kind?
Ich halte es für eines der wichtigsten Elemente der ­Lebenskunst, dass man lernt, Situationen oder Tat­sachen anzunehmen, die man nicht ändern kann. Für mich persönlich war diese Erkenntnis zentral, um mit den Herausforderungen und Rückschlägen des Lebens fertigzuwerden. Doch ich habe auch erfahren, dass der Vorsatz, entsprechend den eigenen moralischen und ethischen Vorstellungen zu handeln, oft mit mehr Arbeit und grösserem Aufwand einhergeht und einen immer wieder vor bedeutende Entscheidungen stellt.
Dieses Dilemma, mit dem ich mich während meines Medizinstudiums immer wieder auseinandersetzen muss, möchte ich aus einer persönlichen Erfahrung heraus darstellen. Meine Schwester kam im Mai 2007 frühgeburtlich mit Pontiner Tegmentaler Capdys­plasie auf die Welt. Diese seltene Störung geht auf eine Fehlbildung im Mittelhirn und eine Störung ver­schiedener Hirnnerven zurück. Bis zu dieser Diagnose verging aber eine unsichere Zeit mit vielen Untersuchungen und einem lange andauernden Hin und Her zwischen verschiedenen Befunden.
Die bei meiner Schwester diagnostizierte Krankheit äussert sich in verschiedenen Symptomen, zum Beispiel durch Gehörlosigkeit, Fazialisparese (halbseitige Gesichtslähmung) und andere motorische und kognitive Schwierigkeiten. Obwohl meine Eltern mit Akzeptanz und Offenheit reagierten, war ihr anfängliches Ziel, meiner Schwester durch verschiedene Operationen und Therapien ein möglichst «normales» Leben zu ermöglichen. Die zuständigen Ärztinnen und Ärzte hatten meinen Eltern nach der Geburt zu diesen Eingriffen geraten. Man versuchte, meiner Schwester das Hören durch ein Hörgerät zu ermöglichen, was misslang. Man versuchte es mit einem Cochlea-Implantat; das bedeutete eine Operation, bei der die Hörprothese mit einem unter der Kopfhaut gelegenen Implantat verbunden wird. Doch ein funktionierendes Cochlea-System setzt eine einwandfreie Funktion des Hörnervs voraus, die im Falle meiner Schwester leider fehlerhaft ist. Ihre Gehörlosigkeit konnte also dadurch nicht geheilt werden.
Ist es wirklich erstrebenswert, alles zu probieren, um Menschen mit einer Behinderung ein «normales» Leben zu ermöglichen? Ist dieser Weg ethisch korrekt?
Ethik stellt in meinem Studium einen essentiellen ­Bereich dar. Ich setze mich aktiv mit diesen Fragen auseinander und erkenne ihre Wichtigkeit. Als Medizinstudentin merke ich, wie mich persönliche Erfah­rungen prägen und meine Denkweise beeinflussen. Ärztliche Fachpersonen sollten in ihrer beratenden Rolle nach dem interpretativen Modell arbeiten. Dies bedeutet, den Eltern oder Betroffenen alle Optionen ­offen darzulegen, realistisch zu bleiben, um falsche Hoffnungen zu vermeiden, und doch nicht allzu pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Als Ärztin möchte ich diese Haltung eines Tages vorleben.
Doch diese grundlegende medizinisch-therapeutische Einstellung steht manchmal im Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen. In meinem Studium lerne ich, naturwissenschaftlich zu denken, mich an Testergebnissen und Erfahrungswerten zu orientieren, anhand von Fallbeispielen Diagnosen zu stellen. In der Wissenschaft gibt es keinen Platz für Hoffnung und Wunder. Und doch fehlt Eltern in genau solchen Situa­tionen jemand, der es wagt, für sie zu träumen, und der ihnen mit der Aussicht auf eine gute Prognose Sicherheit geben kann. Es entsteht ein Konflikt zwischen dem Prinzip der Machbarkeit und dem der Akzeptanz.
Im Beispiel meiner Schwester verlangt der Imperativ der Machbarkeit, jede mögliche Chance zu nutzen, um ihre angeborene Gehörlosigkeit zu «heilen». Eine abwartende Haltung, die das Gegebene versucht anzunehmen, hingegen fragt danach, ob diese Schritte überhaupt nötig und sinnvoll seien und ob es nicht ­angebrachter wäre, sich gegen die wissenschaftliche Ansicht zu stellen. Ein Eingriff bedeutet nicht automatisch eine Verbesserung der Lebenssituation, und auch «Nichtstun» kann manchmal der beste Weg sein, sich ethisch korrekt zu verhalten. Nichtstun bedeutet ja nicht, das Kind sich selbst zu überlassen und keine Hilfe anzubieten, sondern vielmehr, das Kind in seiner Vollständigkeit zu akzeptieren, es zu fördern und dem Drang zu widerstehen, es in eine gesellschaftliche Norm zu drängen, der es nun einmal nicht entspricht.
Für mich müssen ethisch handelnde Ärztinnen und Ärzte diese Gratwanderung zwischen Realitätsbezug und Hoffnungsvermittlung meistern und fähig sein, dieses Dilemma auszuhalten. Statistiken zu erklären oder experimentelle Behandlungen vorzuschlagen ist hierbei nebensächlich; wichtig ist jemand, der den ­Eltern der Betroffenen die Angst nimmt und ihnen Mut gibt zu akzeptieren, dass man manche Situationen nicht ändern kann.
Die medizinische Objektivität stösst ohnehin irgendwann an Grenzen. Meine Eltern sind beide im Arzt­beruf tätig und somit mit medizinischen Aufgaben vertraut. Im Falle ihrer eigenen Tochter verschwindet dieser Anteil in ihnen. Sie sind nur noch Eltern und verlieren das im Studium oder Berufsleben gesammelte Vorwissen komplett aus den Augen. Sie hören auf, wie Medizinerinnen und Mediziner zu denken. Mir würde es an ihrer Stelle gleich ergehen, denn das Schicksal des eigenen Kindes wiegt so viel schwerer als irgendwelche ethischen Prinzipien, die man sich während des Studiums angeeignet hat.
Heute ist meine Schwester 14 Jahre alt und mit ihrem Leben zufrieden. Es wird aber noch viele Jahre dauern, bis sie selber über ihr Leben bestimmen kann, und auch dann wird ihre Autonomie Grenzen haben. Umso wichtiger ist es, dass sie Menschen in ihrem Umfeld hat, denen sie wichtige Aufgaben übertragen kann und die Entscheidungen mit bestem Gewissen und in ihrem Interesse treffen.
Bis heute beinhaltet eine normale Woche im Leben ­meiner Schwester Unterricht in einer Gehörlosenschule mit Physiotherapie, Logopädie und anderen Therapien. Viele dieser Schritte sind meiner Meinung nach sehr wichtig für sie und erleichtern ihr das alltägliche Leben. Jedoch sollte die Motivation für diese verschiedenen Therapien nicht sein, das Kind «normal» zu machen, sondern ihm das eigene Leben etwas zu erleichtern und einen Weg zu einer gewissen Autonomie zu bahnen.
Ethisch korrekt zu handeln bedeutet auch zu erkennen, wenn andere Personen an ihre Grenzen stossen. Man muss zum Schluss kommen, dass es an der Zeit ist, selber aktiv zu werden. Meine Eltern und ich haben die Gebärdensprache erlernt und uns so dem Leben meiner Schwester angepasst. Als hörende Menschen bleibt dies für uns eine Option, für meine Schwester ist es der einzige Weg zur Kommunikation. Es sollte doch eigentlich ein Privileg sein, die Möglichkeit zu haben, für einen Menschen, den man bedingungslos liebt, ­etwas zu leisten, um noch mehr an seinem Leben teilhaben zu können.
Viele Menschen, besonders die, die selbst eine Behinderung haben, würden diese nicht als Krankheit bezeich­nen. Sie sind anders, aber dies bedeutet nicht auto­matisch, dass sie weniger wert sind. In vielen Bezie­hungen können wir von «Menschen mit besonderen Bedürfnissen» – um eine weniger pejorative Bezeichnung zu verwenden – nur lernen. Vor allem bezogen auf Themen wie Toleranz und Mitgefühl gegenüber Mitmenschen brauchen wir Personen, die selber wissen, wie es sich anfühlt, keine Unterstützung zu bekommen. Sie halten uns einen Spiegel vor und zeigen uns auf, wie wichtig es ist, Hilfe anzubieten.
Meine Schwester trug ihr Hörgerät trotz ausbleibendem Erfolg der Operation noch lange, nachdem klar war, dass es keine Wirkung zeigt. Sie hat das Hörgerät aber auf eine andere Weise angenommen, wie wir erst später verstanden. In der Gehörlosensprache werden sogenannte Gebärdennamen festgelegt, die sich oft auf ein äusserliches Merkmal beziehen. Beispielsweise lässt sich der Name einer Person mit einem Nasenpiercing durch ein Tippen auf die Nase darstellen. Der erste Gebärdenname meiner Schwester wurde mit dem Zeigefinger der rechten Hand dargestellt, den man in Form eines Hörgeräts hinter das Ohr legte. Gleich wie das Hörgerät behielt meine Schwester auch ihren Gebärdennamen lange bei. Erst als sie ihre Hörhilfe ablegte, äusserte sie den Wunsch, auch ihren Gebärdennamen zu ändern; möglicherweise konnte sie sich damit nicht mehr identifizieren.
Ihr Umfeld hat gelernt, sich an sie anzupassen. In ihrem eigenen Tempo lernt sie Dinge, von denen wir früher nie geträumt hätten. Alltägliche Errungenschaften kleiner Kinder waren für mich und meine Familie nie selbstverständlich. Mit acht Jahren lernte meine Schwester laufen und alleine aufs WC zu gehen. Das waren auch für uns Meilensteine. Ich erkenne mittlerweile, welche Bereicherung es mit sich bringt, einen Menschen im Leben zu haben, auf den man etwas mehr eingehen muss und für den das Leben etwas ganz anderes bedeutet.
Durch meine Schwester habe ich gelernt, dass es in Ordnung ist, sich für jemand anderen zurückzunehmen und einer schwierigen Lebenssituation etwas Positives abzugewinnen. Durch meine Schwester habe ich die Chance, zu einer Medizinerin zu werden, deren moralische Haltung geprägt ist von zwei Erfahrungen: die der Studentin mit theoretischem und dann auch praktischem Wissen und die der Bezugsperson eines Menschen mit einer Behinderung.
Durch meine Schwester bin ich ein besserer Mensch geworden.
lotte.habermeyer[at]uzh.ch