Unterwandern «Querdenker» die Medizin? (avec réplique)

Briefe / Mitteilungen
Édition
2021/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19863
Bull Med Suisses. 2021;102(22):739-740

Publié le 02.06.2021

Unterwandern «Querdenker» die Medizin? (mit Replik)

Die Empfehlungen unserer Fachgesellschaften richten sich nach Class I (is indicated), Class IIa (should be considered), Class IIb (may be ­considered), Class III (is not recommended). Die Initiative «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» [1] empfiehlt zu Sta­tinen ab 75 Jahren: «Kein Testen und Neubehandeln von Dyslipidämien bei Personen über 75 Jahre in der Primärprävention.» Die ESC (European Society of Cardiology) empfiehlt Class IIb [2].
Zur Begründung nennt «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» das Bottom-up-Verfahren: Eine Studie des Instituts für Hausarztmedizin Zürich hat 1000 Hausärztinnen und Hausärzte nach Interventionen befragt, die sie für nutzlos oder schädlich halten. Dies sei für die primärpräventive Behandlung mit Statinen der Fall. Der richtige Schluss daraus wäre indes der gewesen: Über 1000 Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte kennen die ESC-Richtlinien nicht. Anstatt diesen Fehler zu korrigieren, wird er mit diesem Vorgehen aber gefestigt. Damit verdreht «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» ihr Ziel, Fehlbehandlungen zu korrigieren, in sein ­Gegenteil.
Dass «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» es schafft, mit seiner Empfehlung irgendwie konform zu den ESC-Richt­linien zu sein, geschieht mit einem Trick: «Bei Personen über 75 Jahre ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung ist es unklar, ob eine neu begonnene lipidsenkende Behandlung mit Sta­tinen kardiovaskuläre Ereignisse oder den Tod verhindert. Entsprechend kann auf die ­Lipidmessung in dieser Patientengruppe verzichtet werden.» Im Ergebnis dürften die von diesen widersprüchlichen Empfehlungen ­verunsicherten Hausärztinnen und Hausärzte von einer Behandlung wohl eher ab­sehen.
Diese Rationierungs-Problematik hat der VEMS im «Positionspapier zu Smarter Medicine und Choosing Wisely» [3] dargelegt: Die Anweisungsverben (must, ought, should, may) ­werden in der «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» zugrundeliegenden ABIM-Charta [4] nicht so verwendet, wie es die Klassifizierung der Fachgesellschaften vorsieht. Prof. Rehmann-Sutter hat uns in ­einem Gutachten [5] geschrieben: «Die Gra­duierung in medizinischen Empfehlungen gestützt auf den Evidenzgrad der Nützlichkeit in einer bestimmten Situation (indiziert, soll erwogen werden, kann erwogen werden, ist nicht empfohlen) ist von einer anderen Logik getragen als die normative Sprache der Charta. Hier sind die Worte ‘must, ought, should, may’ im moralischen Sinn zu verstehen.»
Doch die SGAIM degradiert zudem eine Class-I- zu einer Class-IIb-Empfehlung: «Bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Krankheiten und ins­besondere nach Herzinfarkten sollte nach ausführlicher Information gemeinsam mit den Patienten entschieden werden, ob der Einsatz von Statinen gerechtfertigt ist.» Damit verlässt die SGAIM evidenzbasierte Richtlinien komplett. Die Empfehlungen könnten gemäss Gutachten Prof. Kieser [6] den Tatbestand der Irreführung mit einem mangelhaften Medizinprodukt der Klasse I entsprechen.

Replik zu «Unterwandern ­‘Querdenker’ die Medizin?»

Kollege Romanens kritisiert, dass sich die neuen Smarter-Medicine-Empfehlungen der SGAIM nicht an das Klassifikationssystem von Fachgesellschaften halten. Er führt dazu das System der Evidenzklassen I bis III an, wie es beispielsweise die European Society of ­Cardiology (ESC) verwendet. Sein semantischer Exkurs zur Verwendung von Anweisungsverben kritisiert denn auch die Sprachregelung von Empfehlungen der interna­tionalen Choosing-Wisely-Kampagne. Im Besonderen wirft er der SGAIM vor, dass sie mit der Statin-Empfehlung für ältere Patienten über 75 Ver­wir­rung stifte und dass sie sich bei der Empfehlung für die Sekundärprävention für Patienten über 75 nicht auf Evidenz basiere.
Der Kern von Smarter Medicine, wie auch von Choosing Wisely, sind Empfehlungen, was besser zu vermeiden sei, basierend auf der ­aktuellen Evidenzlage. Genau dies trifft auch für die Formulierung der Statin-Empfehlung zu: Gerade weil die Evidenzlage ergibt, dass ein Benefit für Patienten in dieser Situation (Therapiebeginn, Alter über 75, Primärprävention) aktuell nicht nachweisbar ist, soll – nach entsprechender Information der Patienten – kein Therapiebeginn empfohlen werden und dementsprechend auch keine Lipidmessung erfolgen (weil ohne therapeutische Konsequenzen). Die vermeintliche Verwirrung, die Kollege Romanens unterstellt, ist nichts anderes als die bisher fehlende Beweisführung für die Wirksamkeit von Statinen in solcher Si­tuation. Da scheint es uns konsequenter, den Verzicht auf einen Statin-Beginn zu empfehlen als ein reines «Erwägen» («may be considered»). Dass Messung und Behandlung in ­einer Empfehlung zusammengefasst sind, macht aufgrund des logischen Ablaufes von Diagnostik zu Therapie Sinn und entspricht genau den Vorschlägen der Kollegen aus den Praxen, die an der zugrundeliegenden Studie teilgenommen hatten. Darin einen Trick zu sehen, um irgendwelche versteckten Absichten mit Pseudo-Evidenz zu untermauern, ist demnach völlig aus der Luft gegriffen.
Dass auch bei Patienten über 75 in der Sekundärprävention eine gewisse Zurückhaltung angesagt ist, bezieht sich ebenfalls auf die aktuelle Evidenz: In dieser Situation ist zwar ein Benefit nachweisbar, aber in nur geringem Masse (NNTs zwischen 77 und 140 für kardiovaskuläre Ereignisse pro Jahr und pro mmol/l LDL-Senkung). Diesem schmalen Benefit stehen die bekannten potenziellen Nebenwirkungen von Statinen gegenüber und andere Faktoren wie persönliche Prioritäten und ­Lebenserwartung. In dieser «Präferenz-sensitiven» Situation ist die gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Patienten, wie wir sie empfehlen, die richtige Antwort. Dieses pa­tientenzentrierte und zeitgemässe Vorgehen als ein Verlassen von evidenzbasierten Richtlinien zu interpretieren, ist aus unserer Sicht nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil: Patienten über die Faktenlage verständlich zu informieren, damit sie zu einer überlegten, ihren Präferenzen angepassten Entscheidung finden können, ist ein wichtiges (und anspruchsvolles) Ziel der Betreuung, gerade im präventiven Setting.