Pestizide sind mit Gesundheit, Biodiversität und Nachhaltigkeit unvereinbar

Briefe / Mitteilungen
Édition
2021/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19739
Bull Med Suisses. 2021;102(15):505

Publié le 14.04.2021

Pestizide sind mit Gesundheit, Biodiversität und Nachhaltigkeit unvereinbar

Dass immer toxischere Produkte entwickelt werden, ist leider eine Tatsache. Wie ist es sonst zu erklären, dass das Neonicotinoid Imidacloprid für Bienen 7000× toxischer ist als DDT? Die zitierte Risiko-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation WHO bezieht sich spezifisch auf die akuten Gesundheits­risiken und erwähnt explizit, dass die Toxi­zität in Produkten durch Hilfsstoffe ein grös­seres Risiko darstellen könne als durch das geprüfte Pestizid allein. Gerade bei den Neonicotinoiden, deren Toxizität kleinster Dosen mit der Expositionszeit zunimmt, ist die alleinige Prüfung der akuten Toxizität irreführend. Wenn wir in der Schweiz den Pestizid­einsatz seit 1962 um 90% auf 10% reduziert haben, diese Pestizide heute aber 10-, 100- oder 1000-fach toxischer sind als 1962, hat die Toxizität insgesamt zugenommen. Das erklärt die Auswirkungen auf die Biodiversität und die menschliche Gesundheit. Die Neo­nicotinoide haben innert 25 Jahren massgeblich zum Verlust von über 75% der Insekten geführt und von 40% der Vögel. In diesem Zusammenhang von Sicherheit und Nachhaltigkeit zu sprechen ist zynisch.
Die Mängel des Zulassungsverfahrens sind u.a. die fehlende Untersuchung der Wirkstoffe auf hormonelle Wirkung (endokrine Disruption), die alleinige Prüfung der Wirkstoffe ohne Berücksichtigung der Hilfsstoffe in den Produkten, der Verzicht auf Prüfung im Feldversuch unter realistischen Bedingungen. Die Einhaltung der Grenzwerte garantiert die ­Sicherheit nicht. Endokrine Disruptoren wirken in Dosierungen weit unter den legalen Grenzwerten, und gerade bei den Neonicotinoiden können keine sinnvollen Grenzwerte definiert werden, da kleinste Dosen mit der Expositionszeit toxischer werden (Haber’sche Regel). Selbst wenn die Pestizidrückstände bei Stichproben von landwirtschaftlichen Produkten die Grenzwerte einhalten, ist die Sicherheit trügerisch, da Grenzwerte immer wieder hinterfragt werden müssen. Die Geschichte wiederholt sich beharrlich, und zu guter Letzt müssen wir uns eingestehen, dass wir das Risi­ko unterschätzt hatten. Schliesslich sagen Grenzwerte nichts aus über die zunehmende Belastung der Bevölkerung durch Pestizide, die sich in der Nahrungskette anreichern.
Pestizide üben einen starken Selektionsdruck auf die Bodenflora aus. Das führt zum Auf­treten resistenter Bakterienstämme, die ihre Resistenzgene anderen Organismen weiter­geben. Es entwickeln sich Pestizidresistenzen mit Kreuzresistenzen auf Antibiotika. Multi- bis Panresistenzen stellen die gängigen Praktiken zunehmend infrage, die Risiken steigen. Uns gehen die Nützlinge aus, die die Schädlinge in Schach halten. Das gilt auch für unser Mikrobiom. Ohne bakterielle Vielfalt im Darm steigt die Inzidenz von Autoimmunkrank­heiten und Lebensmittelallergien. Die pseudomembranöse Kolitis wird häufiger und betrifft in den USA 450 000 Personen jährlich, wovon 30 000 sterben.
Pestizide sind nicht die Lösung des Problems, sondern Teil davon. Die Bevölkerung hat ein Recht auf gesunde, pestizidfreie Nahrung und sauberes Trinkwasser.