Achtung vor dem Schultertrauma-Check! (avec réplique)

Briefe / Mitteilungen
Édition
2021/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19731
Bull Med Suisses. 2021;102(1314):466

Publié le 31.03.2021

Achtung vor dem Schultertrauma-Check! (mit Replik)

Die Frage nach der Ursache von Rotatorenmanschettenrupturen gibt immer wieder Anlass zu Diskussionen und Streitigkeiten zwischen Patienten und Versicherungen. Viele Patienten fühlen sich geprellt, wenn eine Rotatorenmanschettenruptur nach einem Unfall von den Versicherungen nicht als unfallbedingt anerkannt, sondern als vorbestehend bezeichnet wird. Die Versicherungsexperten haben dafür in der Regel keine Beweise, aber sie stützen sich auf die versicherungsmedi­zinische Standardliteratur. Dabei handelt es sich um Expertenmeinungen und nicht um wissenschaftliche Studien. Das ist auch beim kürzlich in der SÄZ veröffentlichten Schultertrauma-Check der Fall. Er wurde in der Rubrik Weitere Organisationen und Institutionen SVV abgedruckt und darf nicht als offizielle Stellungnahme der FMH betrachtet werden. Von den vier Autoren (zwei pensionierte Knie- und Hüftchirurgen, der Chefarzt des Schweizerischen Versicherungsverbands SVV und ein Hausarzt) hat sich keiner auf dem Gebiet der Schulterorthopädie profiliert, und man kann nur spekulieren, was sie zur Veröffent­lichung einer Checkliste zur Beurteilung der Unfallkausalität von RM-Rupturen bewogen hat.
Der Kampf zwischen Patienten und Unfallversicherungen hat sich in den letzten Jahren zugespitzt. Das merken auch die um Hilfe gebetenen Hausärzte und Schulterspezialisten, und sogar das Bundesgericht. Es ist deshalb wichtig, für die Beurteilung der Unfallkausa­lität auch wissenschaftliche Artikel zur Ver­fügung zu haben. In Pubmed können über 60 peer reviewed Studien und mehr als 20 Case Reports gefunden werden, in denen die folgenden Ursachen für unfallbedingte Rotatorenmanschettenrupturen in absteigender Häufigkeit rapportiert wurden: einfacher Sturz, Schulterluxation, Zug am Arm, Sportverletzung, direkter Anprall, Verkehrsunfall, forcierte Abduktions-Aussenrotations-Bewegung oder Hyperextension, Auffangen eines schweren Gegenstandes und Stromschlag [1]. Der typische Mechanismus, der zum Riss führt, ist eine ruckartige exzentrische Belastung der Sehnenfasern. Beim Sturz auf die Seite geschieht das, wenn der reflexartig ab­gespreizte Arm bei maximal angespannter Schultermuskulatur an den Körper gepresst wird, beim Sturz nach vorne, wenn der vor­geschobene Arm durch das Gewicht des Patien­ten nach hinten gedrückt wird. Ent­sprechend können nach einem Sturz sowohl postero­superiore als auch anteriore Rotatorenmanschettenrupturen gefunden werden. Es gibt keine einzige wissenschaftliche Untersuchung, die gezeigt hat, dass man sich bei einem Sturz keine Rotatorenmanschettenruptur zuziehen kann. Der Schultertrauma-Check darf deshalb in der präsentierten Form nicht verwendet werden.
PD Dr. med. Richard W. Nyffeler, Avry

Replik zu «Achtung vor dem ­Schultertrauma-Check!»

Kollege Nyffeler beanstandet die Aussagen im Artikel über den Schultertrauma-Check als inhaltlich falsch und durch eine Autorengruppe erstellt, die nicht für eine derartige Publikation qualifiziert sei. Die Vorgaben einer Veröffentlichung in der SÄZ von maximal drei Seiten limitieren die Aussagemöglich­keiten, deshalb haben die Autoren auf die ­ausführlichere, vertiefte Argumentation im Medinfo des SVV verwiesen.
Der Inhalt der Aussagen und die Tonlage des Verfassers bestätigen leider den Eindruck, den die vier Autoren aus früheren Publikationen der Vertreter der Schulterexpertengrup­pe und auch aus deren «Replik» ans Bundes­gericht erhalten haben. In diesem ­Gremium fehlt die Expertise, wissenschaftliche Literatur kritisch zu würdigen, was leider zu Falschaussagen ­geführt hat. Die beiden «pensionierten Hüft- und Kniechirurgen» haben sich mehrmals die Mühe genommen, die von den Schulterexperten zitierte Litera­tur genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Resultat war niederschmetternd. Alle zitierten Publikationen konnten die Frage nicht beantworten, ob eine direkte Schulterkon­tusion zu einer Rotatorenmanschettenruptur führen kann. Bei einer Angabe einer Traumatisierung wird selbst­redend und kritiklos das Vorliegen einer Rotatorenmanschettenschädigung als Unfallfolge gewertet (Post-hoc-propter-hoc-Bias). Teilweise wird sogar die falsche Literatur zitiert.
Der Erstautor hat jahrelang den deutschen Schulterorthopädie-Nachwuchs in Evidenzbasierter Medizin ausgebildet und ist des­wegen zum korrespondierenden Mitglied der Deutschen Vereinigung für Schulter- und Ellenbogenchirurgie (DVSE) ernannt worden. Dadurch hat er sich ausreichend qualifiziert gefühlt, die Verantwortung für die Schulter­thematik zu übernehmen. Alle vier Autoren haben Ende 2020 einen ausführlichen Analysebericht den Schulterexperten in der Absicht zukommen lassen, zuerst intern in der Fachgesellschaft die kritischen Beobachtungen sachlich zu diskutieren. Die Reaktion war eine Absage in unkollegialem Stil, und bis heute hat der gleichzeitig orientierte Vorstand von Swiss Orthopaedics keine Anstalten getroffen, sich zu einer Aussprache zu treffen.
Inhaltlich müssen die Vorwürfe klar zurückgewiesen werden:
1. Die versicherungsmedizinische Standard­literatur (z.B. Hempfling, Ludolph) basiert auf einer Literaturzusammenstellung von wissenschaftlichen Studien von über 2000 Publikationen nur schon zum Thema der Schultersehnen. Dass es sich dabei um eine Expertenmeinung handeln soll, ist verfehl­t. Eigenartigerweise haben die Schulterexperten nie Bezug auf die versicherungs­medizinische Literatur genommen, sondern sich vornehmlich nur mit solcher angel­säch­sischer Provenienz begnügt, die mit dem Begrif­f «Tear» versicherungsmedizinisch nicht zwischen Unfall und Erkrankung diffe­renziert.
2. Schulteroperateure unterliegen dem Risiko, Interessensvertreter zu sein, was bei «pen­sionierten Knie- und Hüftchirurgen, einem Hausarzt und dem Chefarzt des SVV» eher weni­ger der Fall ist.
3. Die vier Autoren haben im Schultertrauma-Check Kriterien aufgelistet, die bei einer traumatischen Entstehung erfüllt sein können.
4. Dem Leserbriefschreiber ist zu empfehlen, zuerst die ausführliche Beurteilung im Medinfo des SVV zu lesen und sich dazu Gedanken zu machen.
5. Die Autoren aus dem Fachgebiet Orthopädie sind weiterhin bereit, wie ursprünglich angedacht, auf eine Diskussion innerhalb der Fachgesellschaft einzugehen.
Dr. med. Luzi Dubs, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, korrespondierendes Mitglied der Deutschen Vereinigung für Schulter- und Ellenbogenchirurgie e.V. (DVSE)