Case-based Clinical Reasoning

Der bessere Übergang von der universitären Theorie zur Praxis

Tribüne
Édition
2021/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19700
Bull Med Suisses. 2021;102(3132):1010-1012

Affiliations
a Dr. med., Facharzt für Chirurgie, speziell Allgemein- und Viszeralchirurgie, FMH-Mitglied

Publié le 04.08.2021

Medizinstudierende verfügen gegen Ende ihrer universitären Ausbildung über ­grosse theoretische Kenntnisse, müssen aber auch fähig sein, diese am Patienten anzuwenden. Kein einfacher Prozess. In Bellinzona wird deshalb das Programm «Case-based Clinical Reasoning» (interaktive Falldiskussionen) angeboten, das den Wechsel von der Theorie zur Praxis stark erleichtert.
Vom ersten Tag an ist im Arztberuf grosse Selbständigkeit gefragt. Das führt allerdings dazu, dass sich Mängel bei der Patientenbetreuung und der klinischen Argumentation sowie unzureichende Kenntnisse in der Kommunikation während der ersten Assistentenstelle belastend bemerkbar machen.
Der abrupte Übergang von der Theorie zur Praxis ist anspruchsvoll und nicht zu unterschätzen. Das Prak­tikum der cand. med. müsste deshalb in mancher Hinsicht verbessert werden. Um diese Problematik mit ­einer neuen und effizienten Methodik anzugehen – die sich problemlos in das gegenwärtige System inte­grieren lässt –, hat Paul Biegger 2016 am Regionalspital Bellinzona (ORBV) mit regelmässigen Lektionen in «Case-based Clinical Reasoning» begonnen (interaktive Falldiskussionen). 2019 schloss sich Adriano Guerra an. Er ist seit 2020 für die Ausführung des Programms verantwortlich und hofft auf weitere emeritierte Kader, die sich für diese Arbeit interessieren.
Nach einem schwierigen Jahr, geprägt durch die Corona-Pandemie, ist eine Standortbestimmung angezeigt.

Methodik

Es handelt sich bei dem Programm um eine spezifische und strukturierte Ausbildung, die alle cand. med. des Regionalspitals umfasst. Dazu kamen Teilnehmende aus dem Regionalspital Locarno, das ­vorübergehend als ausschliessliches Covid-Zentrum geführt wurde. Alle Kandidatinnen und Kandidaten verschiedener Universitäten (siehe Abbildung) haben sich spontan für ein Praktikum von mindestens einem Monat in Bellinzona (oder Locarno) angemeldet. Studierende des Masterlehrgangs der Università della Svizzera Italiana nehmen daran nicht teil, da sie ­einem Praktikumsprogramm der Universität Lugano folgen.
Das spezifische Angebot in Bellinzona nennt sich «Education in Case-based Clinical Reasoning». Effektiv handelt es sich um interaktive Diskussionen, wie in konkreten realen Fällen mit Patienten (nicht Pathologien) vorgegangen werden soll. Dabei legt das Team Wert auf empathische Kommunikation, Grundsätze effektiven Managements und baut gelegentlich auch praktische Übungen ein. Geachtet wird auf die Fähigkeit, aktiv ­zuzuhören, zu beschreiben, anstatt zu etikettieren, mit Hilfe von Mind Maps zu synthetisieren und die eigene Sprache dem Gegenüber anzupassen.
Der interaktive Unterricht in kleinen Gruppen wird von den Studenten ausserordentlich geschätzt. Er kontrastiert positiv zur Vorlesung im Hörsaal. Eine Lektion dauert meist 2½ Stunden, angesetzt für Dienstag- und Donnerstagnachmittag. Zwei Kader teilen sich die Anwesenheit in gegenseitiger Absprache. Die jeweiligen Chefärztinnen und Chefärzte unterstützen die Aktivi­tät. Der emeritierte Mentor nimmt an den Lek­tionen teil, interveniert mit Ergänzungen und Fragen, sammelt am Ende der Begegnung Feedbacks, die er später zusammen mit eigenen Empfehlungen den ­Kolleginnen und Kollegen weitergibt.
Am Ende des Praktikums erhalten die Studierenden ­einen Fragebogen, der zusammen mit einer jährlichen Umfrage bei den Kadern ausgewertet wird.
Am Regionalspital Bellinzona (ORBV) profitieren Studierende von interaktiven Falldiskussionen. Die meisten kamen im Jahr 2020 aus Italien und blieben einen Monat lang.

Resultate und Diskussion

60 Studierende haben 2020 ihr Praktikum in Bellinzona absolviert. Ihr Studienland, der Ausbildungsstand, die Dauer des Praktikums und die Speziali­sierung der teilnehmenden Kader sind in den Abbildungen ersichtlich. Im Durchschnitt beteiligten sich fünf Studenten an den Lektionen. Sind es mehr als zehn, verliert die Begegnung an Qualität, wie die Erfahrung zeigt.
Wegen der Pandemie wurden im Frühjahr die Begegnungen acht Wochen lang eingestellt und im Mai vor­übergehend auf Videokonferenz geschaltet. Die allgemeine Präsenz hielt sich bei 84%. Absenzen waren durchwegs entschuldigt wegen interessanter Tätig­keiten auf den Abteilungen. Die Teilnahme sollte nicht den Aspekt von «kommandiert und obligatorisch» bekommen, sondern aus Interesse und Motivation erfolgen. Das Feedback der Teilnehmenden war entsprechend positiv (82% Rücklauf). Kritiken ­wurden sofort mit den Beteiligten diskutiert und gelöst. Die Lektionen wurden generell als «einzigartig», sehr nützlich und komplementär zum Universitätsstudium beurteilt. Alle Studierenden würden deshalb Kolleginnen und Kollegen ein Praktikum in Bellinzona empfehlen. Der Wechsel auf Videokonferenzen zeitigte wenig bis keinen Enthusiasmus im Vergleich zu den persönlichen Begegnungen.
Mentoren und beteiligte Kader haben festgestellt, dass der Ausbildungsstand der Studierenden für einen maximalen Profit der Lektionen eine bedeutende Rolle spielt und dass eine häufige Teilnahme den positiven Effekt verstärkt.
Mit den beiden emeritierten Mentoren ­haben insgesamt 23 Kader freiwillig an den Lektionen teilgenommen. Die Verteilung auf die verschiedenen Speziali­täten sind in Teil 4 der Abbildung ersichtlich. Der Rücklauf der Umfrage belief sich auf 96%. Für den Einzelnen kam die zeitliche Belastung auf eine Stunde pro Monat. Vorbereitungszeit fällt weitgehend weg, da es zum Beispiel keine PowerPoint-Präsentationen gibt. Gearbeitet wird mit der Krankengeschichte, die Kader kennen ihre vorgestellten Patientinnen und Patienten.
Zudem haben die meisten von ihnen einen persönlichen Stil entwickelt, und offensichtlich machten die Begegnungen mit einer kleinen Gruppe von Studierenden Spass. Konstruktive Kritiken der Mentoren wurden geschätzt und umgesetzt. Niemand fühlte sich verletzt oder bevormundet. Speziell erwähnt wurde, dass der Aufwand zusammen mit der Vorbereitung der Lektionen des universitären Masterlehrgangs erträglich war und dass speziell für die letztere Tätigkeit von unseren Lektionen profitiert wurde, insbesondere für die Führung der eigenen Assistenten. Denn Ausbildung gehört zur Kaderfunktion. Die Fähigkeit dazu kann erlernt werden. Kompetente Hilfestellung wird deshalb geschätzt.
Die Arbeit des Mentors beziehungsweise Organisators ist schwieriger zu quantifizieren. Neben der Absprache mit den Kadern, Teilnahme an den Lektionen, Feedbacks, Reservation von Räumen fungiert er als Ansprechpartner der cand. med.

Schlussfolgerung

Die von uns präsentierten Resultate der Umfragen sprechen für sich. «Case-based Clinical Reasoning» ­unseres Typs sollte eine Lücke füllen, die nicht nur uns aufgefallen ist. Eine immer grössere Komplexität der Patienten, schnellerer Turnover, Technisierung, Ausweitung der Informatik und ökonomische Ausrichtung in der ärztlichen Tätigkeit verlangen schon am Anfang der Praxis nach persönlicher Unterstützung.
Von Ärztinnen und Ärzten wird erwartet, dass sie darüber hinaus ideale und kompetente Ausbilder sind und zu kommunizieren wissen, nicht nur mit Patienten, sondern auch interdisziplinär. Das sind gravierende Vorgaben. Die Strategie in Bellinzona ergänzt, ohne zu belasten, findet Anklang und gibt Befriedigung. Sie profitiert von der Erfahrung emeritierter Kolleginnen und Kollegen und belegt klar, dass das viel zitierte ­Generationenproblem nicht existieren muss, sondern Berufserfahrung gerade in der Medizin als wertvolle Ressource betrachtet werden sollte.
Fazit: «Case-based Clinical Reasoning» will einen Beitrag zur Perfektionierung in der Ausbildung bieten, der den Wechsel von der Theorie zur Praxis erleichtern kann. Emeritierte Kollegen sind dabei eine nicht zu unterschätzende Ressource. Das Team würde sich freuen, wenn diese Erfahrung Schule macht und Nachahmer findet, auch mit eigenen Projekten.

Das Wichtigste in Kürze

• Bei «Case-based Clinical Reasoning» handelt es sich um eine spezifische und strukturierte Ausbildung, die alle cand. med. des Regionalspitals umfasst.
• In interaktiven Diskussionen lernen Studierende, wie in konkreten realen Fällen mit Patienten (nicht Pathologien) vor­gegangen werden soll. Das Team legt besonderen Wert auf empathische Kommunikation, Grundsätze effektiven Managements und baut gelegentlich praktische Übungen ein.
• Umfrageresultate bestätigen, dass das Programm von Kadern und Studierenden geschätzt wird. Es wird als einzigartig, nützlich und komplementär zum Universitätsstudium beschrieben.

L’essentiel en bref

• «Case-based Clinical Reasoning» est une formation spécifique et structurée qui inclut tous les cand. med. de l’hôpital régional.
• Grâce à des discussions interactives, les étudiants apprennent comment gérer des patients (et non des pathologies) dans des cas concrets. L’équipe met l’accent sur la communication empathique, les principes d’une gestion efficace et intègre de temps en temps des exercices pratiques.
• Les résultats de l’enquête montrent que le programme est apprécié par les cadres et les étudiants. Il est décrit comme unique, utile et complémentaire aux études universitaires.
Dr. med. Adriano Guerra
Ospedale Regionale ­Bellinzona e Valli (ORBV)
CH-6500 Bellinzona
adrianoguerra[at]bluewin.ch