Lehren des leeren Schädels

Horizonte
Édition
2021/2728
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19570
Bull Med Suisses. 2021;102(2728):937

Publié le 06.07.2021

Ich sass im Tram, wie ich es immer tu, wenn ich vom Einkaufsbummel heimwärts fahr’. Auf meinem Schosse steht ein Korb, darin die eingekauften Sachen eingepackt.
Die Augen aller Leute schauen leer und müd’ und keiner fragte nach dem andern, so will auch keiner dieser Unbelebten wissen, was heut’ mein Korb so Wunderbares birgt.
Der Schädel eines Menschen liegt darin, fein präpariert, zum Unterricht bestimmt. Gehäuse ohne Inhalt, das doch einst – vielleicht – der Ort von Träumen war.
Was ward in diesem Knochen wohl gedacht, gelitten und erlebt? In ihm hat sich die ferne Welt gespiegelt, jetzt ist er selbst Bestandteil dieser fremden Welt.
Vielleicht war er ein Philosoph,
ein Schuster, Dichter, Harlekin?
Ein Atheist, ein frommer Mann, ein Säufer oder Scharlatan?
Ganz sicher ist: er war ein Mensch.
Auch er wohl suchte nach dem Unbekannten
und wundert’ und enttäuschte sich,
und war in allen seinen Erden­tagen –
wie jetzt von mir –
in einem unsichtbaren Netz getragen.
Er hat sich seine letzte Ruhstatt anders vorgestellt:
begraben in der Heimaterde,
im Angedenken seiner Freunde
weiterlebend.
Stattdessen hat er seinen Platz auf meinem Tisch. Und Lücken öffnen sich zur grossen Welt, die sich zum Greifen nah entgegenhellt. Umgeben jetzt von Büchern und Tabellen, zum Teil als Werkzeug des Scholasten, zum Teil auch als sein Freund, als Mensch.
Denn Freund ist der, von dem / mit dem man lernen darf.
Prof. Dr. med. Jürg Kesselring, Valens
juerg.kesselring[at]bluewin.ch