Die Freiheit einer Wahl, die gar keine ist

Briefe / Mitteilungen
Édition
2021/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19517
Bull Med Suisses. 2021;102(03):86

Publié le 20.01.2021

Die Freiheit einer Wahl, 
die gar keine ist

Herr Dr. Quinto hat im Namen des FMH-Zen­tralvorstands ein «FMH Editorial» zum Thema der Covid-19-Impfung verfasst: Die Impfung wird durch den Titel «To vaccinate, or not to vaccinate ...?» als gleichwertige Alternative zum Verzicht dargestellt. Wir erhalten die Freiheit einer Wahl, die gar keine ist, denn die Pandemie erweist sich – ohne Impfung – als unbeherrschbar. Was steht denn zur Verfügung, wenn auf die Impfung verzichtet wird? Müssen wir uns nochmals mit den in der ersten Welle geäusserten, seither widerlegten Irr­wegen und falschen Hoffnungen herumschlagen: Herdenimmunitiät, Ausbrennen der Pandemie? Oder gilt die Verschwörungstheorie, Covid sei eine Erfindung und schlimmstenfalls eine neue Form der Grippe, «weil über 90% der Covid-Infizierten einen leichten Krankheitsverlauf haben» – wie Herr Dr. Quinto «beruhigend», aber leider nicht überzeugend, schreibt?
Ähnlich wie Herr Dr. Quinto argumentieren Maskengegner und Covidleugner, die einem falschen Freiheitsglauben Menschenleben opfern und ihre Haltung auch noch in der Verfassung verankern wollen. Auch gewisse Wirtschaftskreise bekämpfen Massnahmen gegen Covid mit fadenscheinigen Argumenten der Freiheitsrechte. Abgesehen davon, dass es ökonomisch falsch ist, Wirtschaft und Gesundheit als Gegensätze zu betrachten – Gesun­de produzieren und konsumieren mehr als Kranke –, sind zwei Folgen der «wirtschaftlich verhältnismässigen» Freiheit unver­meidlich: Unsere Demokratie leidet, und der Schweizer Wirtschaft müssen Menschenopfer dargebracht werden. Diese Opfer hat der eidgenössische Finanzminister öffentlich gutgeheissen. Ja, man habe es so gewollt – die bald 7000 Covid-Toten seien vorwiegend alte Menschen. Ihr Sterben kostet die Wirtschaft nichts − im Gegenteil. Die Präambel unserer Bundesverfassung, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst, wir dadurch zu einem Schönwettertext.
Soll man nun impfen oder nicht? Man kann es den Schweizern nicht verargen, dass sie nach einem Jahr chaotischer und lügenhafter Informationen durch die Landesregierung misstrauisch geworden sind – gerade einmal ein gutes Drittel würde sich impfen lassen. Zwar wird ein RNA-Impfstoff durch eine im New England Journal of Medicine detailliert publizierte, randomisierte Doppelblindstudie an über 40 000 Probanden als sicher und wirksam beschrieben. Er ist durch die amerikanische Food and Drug Administration, die Europäische Arzneimittelbehörde und Swissmedic zugelassen worden und wird in gewissen Ländern schon in grossem Stil eingesetzt. Natürlich bleiben manche Fragen offen. Wenn aber die FMH nur nörgelt und Unsicherheiten vertieft, setzt sie falsche Akzente.
Die Wirksamkeit des Impfstoffs sei, so das Editorial, bei «älteren Personen nicht immer so gut belegt». Folglich rät die FMH, die Impfstoffe «zuerst bei Risikopersonen einzusetzen, und zwar mit dem Ziel, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden». Wenn die Wirksamkeit bei den Alten wirklich «nicht so gut» wäre (was aufgrund der Daten nicht stimmt), wäre es ethisch fragwürdig, sie zuerst zu impfen.
Das Versagen der Schweiz hat dazu geführt, dass das Ausmass der Pandemie nicht mehr anhand von Erkrankungen und Todesfällen, sondern anhand der Bettenbelegung von Spitälern gemessen wird. Auch das «FMH Editorial» meint es so. Wir Ärzte und Ärztinnen sollten jedoch nicht in erster Linie das Gesundheitssystem vor Überlastung schützen, sondern Menschen vor Krankheit und Tod.