Wahrnehmung von und Umgang mit Rückenschmerzen

Rückenreport 2020

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Édition
2021/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19449
Bull Med Suisses. 2021;102(04):118-120

Affiliations
M.Sc. Business Administration, Projektleiterin KOMPASS, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Rheumaliga Schweiz

Publié le 27.01.2021

Der Rückenreport 2020 zeigt auf, dass 67% der Schweizer Bevölkerung mehrmals pro Jahr an Rückenschmerzen leiden. Rückenbeschwerden sind mehrheitlich unproblematisch und verschwinden in der Regel nach vier Wochen wieder. Es besteht jedoch Nachholbedarf im Bereich der Prävention und Behandlung, um Rezidive und die Chronifizierung von Rückenschmerzen zu verhindern.
Rückenschmerzen sind ein Volksleiden – sie unterscheiden sich aber in ihrer Ausprägung. Auch wenn erstmalige Rückenschmerzen in 80% der Fälle nach vier bis sechs Wochen verschwunden sind [1], verur­sachen diese enorme volkswirtschaftliche Kosten und können das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen. Deshalb führte die Rheumaliga Schweiz im Jahr 2020, nach neun Jahren, erneut eine repräsentative Umfrage in der Schweizer Bevölkerung durch, um die Wahrnehmung und den Umgang mit Rücken­schmerzen aus Sicht der Betroffenen zu beleuchten. Im ­Februar 2020 wurden dafür 1041 Personen aus der Deutsch- und Westschweiz zum Thema Rückenschmerzen befragt. Der Rückenreport 2020 fasst die wichtigsten Resultate dieser Umfrage zusammen, ­einige davon werden im Folgenden erläutert.

Rückenschmerzen: 
Begleiter des ­modernen Lebens

Gemäss dem Rückenreport 2020 hatten bereits 88% der befragten Personen in ihrem Leben einmal Rückenschmerzen. Die deutsche Rückenstudie (2003/ 2006) ergab ähnliche Resultate und zeigt auf, dass bis zu 85% der Bevölkerung mindestens einmal in ihrem Leben Kreuzschmerzen1 bekommen [2]. Gemäss dem Rückenreport 2020 waren 67% der Befragten bereits mehrmals pro Jahr mit Rückenbeschwerden konfrontiert. 22% leiden monatlich und 17% sogar wöchentlich an Rückenschmerzen. Weltweit wird davon ausge­gangen, dass der Median der Periodenprävalenz von Kreuzschmerzen von einem Jahr bei 37% liegt [3]. ­Dabei weisen die Länder mit einem hohen Einkommen höhere Durchschnittsprävalenzen von Kreuzschmerzen auf als Länder mit mittleren und tiefen Einkommen [3].
Rückenschmerzen betreffen insbesondere Personen im erwerbstätigen Alter. Signifikant häufiger von Rückenbeschwerden betroffen sind Frauen und Personen mit einem sozioökonomisch schwächeren Hintergrund. 27% der Befragten, welche zum Zeitpunkt der Umfrage erwerbstätig waren, sind bereits mindestens einmal aufgrund von Rückenschmerzen bei der Arbeit ausgefallen.

Gründe für Rückenschmerzen

Der Rückenreport zeigt auch, was Betroffene selbst für die Auslöser ihrer Rückenschmerzen halten. In absteigender Reihenfolge sind aus Sicht der Befragten Muskelverspannungen (57%), körperliche Überbelastung (38%), falsche Bewegung (37%) und Stress, Sorgen und Pro­bleme (33%) die wichtigsten Gründe für Rückenschmerzen. Die gegenseitige Beeinflussung von Rückenschmerzen und der psychischen Gesundheit gilt es ernst zu nehmen. Beispielsweise gehen stärkere ­depressive Symptome fast immer – in 90% der Fälle – mit körperlichen Beschwerden einher, wovon Rückenschmerzen und Schlafstörungen einen besonders grossen Anteil ausmachen.

Lifestyle-Risikofaktoren

Der kausale Zusammenhang zwischen beeinfluss­baren Risikofaktoren (z.B. Rauchen, Übergewicht, fehlende Aktivität) und Rückenschmerzen ist noch unzureichend erforscht. Eine neuere Studie weist jedoch auf einen starken Zusammenhang zwischen Rauchen und Rückenschmerzen hin [4]. Auch der Rückenreport ­veranschaulicht, dass Raucher und Raucherinnen viel häufiger von Rückenschmerzen betroffen sind als Nichtraucher und Nichtraucherinnen. 60% der Raucher und Raucherinnen gaben an, mehrmals pro Woche (31%) bis mehrmals pro Monat (29%) an Rückenschmerzen zu leiden, wobei von den Nichtrauchern und Nichtraucherinnen 48% mehrmals pro Woche (20%) bis mehrmals pro Monat (28%) mit Rücken­beschwerden konfrontiert sind.

Massnahmen bei Rückenschmerzen

Die meisten Personen beissen auf die Zähne, halten durch und bleiben aktiv. Dieses Verhalten ist besonders bei akuten und nicht spezifischen Rückenschmerzen sinnvoll. Allerdings fördert der Rückenreport auch zutage, dass viele Personen bei klaren Warnsignalen nicht den Hausarzt und die Hausärztin oder den Facharzt und die Fachärztin aufsuchen. Es ist auch zu beobachten, dass die befragten Personen im Vergleich zum Jahr 2011 tendenziell seltener einen Arztbesuch als notwendig erachten (Abb. 1).
Abbildung 1: Ist ein Arztbesuch nötig? Antworten aus den Jahren 2011 und 2020 im Vergleich (Rückenreport, 2020).

Akute oder chronische Rückenschmerzen

Grundsätzlich haben Rückenschmerzen eine günstige Prognose, insbesondere wenn es sich um Bewegungs- und Haltungsproblematiken respektive harmlose muskuläre Ursachen handelt, bei denen die Schmerzen nach vier bis sechs Wochen wieder verschwinden (akute Rückenschmerzen). Weitaus problematischer sind subakute (Dauer >6 Wochen) und chronische Rückenschmerzen (Dauer >12 Wochen). Der Rückenreport zeigt auf, dass 21% der Befragten in den letzten zwölf Monaten an chronischen Rückenschmerzen gelitten haben. Gemäss Fachpersonen wird der Grossteil der Betroffenen mit akuten Rückenschmerzen wieder schmerzfrei und nur 10% entwickeln chronische ­Beschwerden [5]. Um eine drohende Schmerzchroni­fizierung rechtzeitig zu identifizieren, kommen bei Fachpersonen die sogenannten «Yellow Flags» zur Anwendung. Damit wird die psychosoziale Situation der Betroffenen eruiert (z.B. Stress, ungenügende Bewältigungsmechanismen, Depressivität, schmerzbezogene Kognition und passives Schmerzverhalten). Halten die Rückenschmerzen länger als vier Wochen an, ist es wichtig, psychosoziale Faktoren abzuklären, um eine mögliche Chronifizierung der Rückenschmerzen verhindern zu können.

Rückenschmerzen verursachen 
hohe Kosten

Rückenschmerzen verursachen Produktionsverluste von 4939 Franken pro Betroffenen und Jahr [6]. Der ­Rückenreport zeigt auch, wie viel Geld die Betroffenen selbst für Gesundheitsmassnahmen aufwenden: Zwei von drei befragten Personen geben an, 2019 durchschnittlich 524 Franken aus dem eigenen Sack für die Behandlung von Rückenschmerzen ausgegeben zu ­haben für von der Krankenkasse nicht vergütete ­Behandlungen, Arzneien oder Hilfsmittel. Bei Personen mit chronischen Rückenschmerzen beliefen sich die selbst getragenen Gesundheitskosten im Schnitt sogar auf 836 Franken, bei Befragten mit akuten ­Rückenschmerzen hingegen lediglich auf 378 Franken.

Prävention am Arbeitsplatz

Gemäss der sechsten europäischen Erhebung über ­Arbeitsbedingungen gehören Rückenschmerzen zu den häufigsten arbeits(mit)bedingten Gesundheitsbeschwerden. Der Rückenreport 2020 untermauert diese Aussage und führt zutage, dass sich jede fünfte Person mit Rückenschmerzen bei der Erwerbsarbeit beeinträchtigt fühlt. Präventive Massnahmen am Arbeitsplatz sind zwar im schweizerischen Arbeitsgesetz verankert und zudem zentral, um arbeits(mit)bedingte Rückenschmerzen zu verhindern. Dennoch zeigen die Resultate, dass knapp die Hälfte (49%) der Befragten in einem Anstellungsverhältnis angab, dass die Arbeit­gebenden weder Unterstützung bei bestehenden Rückenschmerzen noch präventive Massnahmen anbieten.
Die Arbeitsausfälle aufgrund von Rückenschmerzen sind seit 2011 leicht rückläufig. Dennoch beträgt der jährliche Median der Ausfälle aufgrund von Rückenschmerzen fünf Tage. Diese Ausfälle sind mit enorm hohen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden.

Das Paradox der Prävention

Die Mehrheit der Befragten ist bemüht, Rückenschmerzen vorzubeugen, indem sie auf ihre Haltung achtet, viel Bewegung in den Alltag einbaut und Überbelastungen vermeidet. Der Report veranschaulicht auch, dass sich die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung gesundheitswirksam bewegt. Weshalb sind denn immer noch so viele Personen von Rückenschmerzen betroffen? Eine abschliessende Erklärung liefert der Rückenreport 2020 nicht, und weiterer Forschungsbedarf ist vorhanden. Mögliche Erklärungsansätze sind zum Beispiel, dass durch das wachsende Bewusstsein für Gesundheit und Fitness in der Gesellschaft auch die Wahrnehmung von Rückenschmerzen gesteigert wurde. Zudem müssen viele präventive Massnahmen nicht zwingend bedeuten, dass im Einzelfall die richtige Intervention gewählt wird.

Ein omnipräsentes Volksleiden

Der Rückenreport 2020 veranschaulicht erneut, dass Rückenschmerzen in der Schweiz ein omnipräsentes Volksleiden mit weitreichenden Konsequenzen sind. Die Wahrnehmung der Bevölkerung zeigt, dass die ­Betroffenen nicht immer die richtigen Massnahmen ergreifen und dass trotz präventiver Bestrebungen die Prävalenz von Rückenschmerzen hoch ist. Massnahmen auf verschiedenen Ebenen sind gefragt, um das Volksleiden gezielt zu minimieren. Gemäss diversen Richtlinien ist es aus fachlicher Sicht erstens wichtig, Betroffene darüber zu informieren, dass akute, un­spezifische Rückenschmerzen in den meisten Fällen harmlos sind und eine gute Prognose haben [7, 8]. Zweitens sind Hinweise auf ergonomisches Ver­halten, Auto­mobilisation sowie Motivation zur Bewegung zen­tral. Bettruhe sollte vermieden werden. ­Halten die Rückenschmerzen länger als vier Wochen an, ist ­drittens eine Abklärung der psychosozialen Faktoren im Zusammenhang mit Rückenschmerzen wichtig, um eine Chronifizierung dieser zu verhindern. ­Obschon der Einfluss von psychosozialen Faktoren, wie z.B. Stress, auf Rückenschmerzen bekannt ist, wird ­häufig sowohl bei der Ursache als auch der Behandlung der ­Rückenschmerzen vorwiegend nach körperlichen Faktoren gesucht.
Es wird davon ausgegangen, dass Public-Health-Programme, welche die Reduktion von Übergewicht und anderen Risikofaktoren sowie die Förderung von ­gesundheitswirksamer Bewegung zum Ziel haben, dazu beitragen können, die Auswirkungen von Kreuzschmerzen zu mindern [9]. Ergänzend dazu ist es aber auch wichtig, dass die Bevölkerung informiert ist über die korrekte Ausführung von Bewegungsabläufen bei der Arbeit und im Sport, um muskuläre Verspannungen und Überbelastungen zu vermeiden. Zudem werden auch strukturelle Massnahmen am Arbeitsplatz benötigt, um gesunde Arbeitsbedingungen gewährleisten zu können. Die Rheumaliga Schweiz sensibilisiert mit gezielten Informationen die Bevölkerung und bietet spezifische Bewegungskurse für Betroffene an.

L’essentiel en bref

• Début 2020, la Ligue suisse contre le rhumatisme a interrogé 1041 personnes de Suisse alémanique et romande sur le thème du mal de dos. Le «Rapport sur le dos 2020» résume les résultats principaux de l’enquête.
• Près de 70% de la population suisse souffre de maux de dos plusieurs fois par an. Les femmes, les personnes qui fument et celles issues d’un milieu socio-économique défavorisé sont plus fréquemment touchées.
• Les douleurs dorsales entraînent des coûts privés et socioéconomiques élevés.
Mehr Informationen finden Sie auf:
Angela Mueller
Tel. 044 487 40 16
a.mueller[at]rheumaliga.ch
1 North American Spine Society (2007). Back Pain Basics. Abgerufen am 13. November 2020, unter www.spine.org/Portals/0/Assets/Downloads/KnowYourBack/BackPainBasics.pdf
2 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen ­Fachgesellschaften (2017). Nationale Versorgungsrichtlinie. Nicht-spezifischer Kreuzschmerz. Kurzfassung. 2. Auflage. Abgerufen am 21. Dezember 2020, unter www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-007k_S3_Kreuzschmerz_2018-02.pdf
3 Hartvigsen J, et al. Low back pain 1. What low back pain is and why we need to pay attention. Lancet Series. 2018;391(2356–67).
doi: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(18)30480-X
4 Ottenjann H. Rauchen und Rückenschmerzen – gibt es da eine Kausalität? Schmerzmed. 2017;33:14. doi: doi.org/10.1007/s00940-017-0489-4
5 Luomajoki H. Chronifizierungsrisiko bei Rückenschmerzen einschät­zen – STarT Back Tool. physiopraxis. 2016;14(5):46–7. doi: 10.1055/s-0042-104913
6 Wieser S, et al. (Dezember 2014). Die Kosten der nichtübertragbaren Krankheiten in der Schweiz. Schlussbericht der ZHAW, Polynomics, und der Universität Zürich zuhanden des Bundesamtes für Gesundheit. Abgerufen am 23. April 2020, unter www.zora.uzh.ch/id/eprint/103453/1/wieser-kostendernichtuebertragbare.pdf
7 Saidl H, Brüne B. (September 2018). Guideline. Rückenbeschwerden. mediX. Abgerufen am 23. April 2020, unter www.medix.ch/media/gl_rueckenbeschwerden_2018_19.8.18_mh.pdf
8 Oliveira CB. Clinical practice guidelines for the management of non-specific low back pain in primary care: an updated overview. European Spine Journal. 2018;27(2792–803). doi: https://doi.org/10.1007/s00586-018-5673-2
9 Buchbinder R, et al. Low back pain: A call for action. ­Lancet Series. 2018;391(2384–88).
doi: doi.org/10.1016/S0140-6736(18)30488-4.