Das medizinische Behandlungsverhältnis und Corona

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Édition
2021/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19446
Bull Med Suisses. 2021;102(0102):11-13

Affiliations
Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytikerin SGPsa, Geschäftsleiterin der Silser Balint-Studienwoche, Zürich

Publié le 05.01.2021

Was lehrt uns die aktuelle Covid-19-Pandemie über die Arzt-Patienten-Beziehung? Welche Begriffe und Konzepte haben dabei eine Bedeutung? Warum ist die Balintarbeit eine ideale Technik, diese vielschichtigen Verhältnisse vertieft zu erforschen?*

Drei zentrale Begriffe

Der erste Begriff ist Wohlwollen. Das Wort setzt sich zusammen aus «wohl» wie sich wohlfühlen und «wollen», einem Verb, das eine Intentionalität voraussetzt: Wohlwollend sein ist also eine bewusste Haltung. Wohlwollen bedeutet eine grundsätzliche Offenheit gegenüber den Anliegen der anderen, der Versuch, diese in ihrer subjektiven Situation zu verstehen und sich selber zurückzunehmen. Wohlwollen ­beinhaltet aber auch, Gutes, das einem zuteilwird, anzunehmen – etwas, das uns Ärztinnen und ­Ärzten oft eher schwerfällt – und setzt voraus, bei sich die Voraussetzung zu schaffen, überhaupt wohlwollend sein zu können. Dazu muss es mir selbst einigermassen gut gehen. In der Realität kostet es manchmal einen gehörigen inneren Aufwand, wohlwollend zu sein, z.B. wenn man müde ist oder sich nicht wert­geschätzt fühlt. Wohlwollen hat neben der objektiven, auf das Gegenüber bezogenen Komponente auch noch eine narzisstische: Mir geht es gut, wenn es dir gut geht. Wenn ich durch mein Wirken erreiche, dass es meinen Patientinnen und Patienten besser geht, fühle ich mich als Ärztin gut. Aber auch die Betroffenen möchten, dass es ihrer Therapeutin gut geht, und die Schwierigkeit ist es, zwischen diesen verschiedenen An­sprüchen mehr oder weniger ein Gleichgewicht herzustellen. Wohlwollend sein bedeutet auch nicht einfach nett sein. Manchmal müssen wir sehr bestimmt werden, um dem Gegenüber zum Wohlergehen zu verhelfen. Selbst bei diesem so harmlos klingenden Wort sind wir nicht davon befreit, uns immer wieder Gedanken machen zu müssen, warum wir in einer Situation nicht wohlwollend sind, aber genauso, was es mit unserem uneingeschränkten Wohlwollen auf sich haben könnte.
Gegenseitige Abhängigkeiten: Auch die Therapeutin braucht die Patientin. Denn ohne diese können Ärztinnen und Ärzte ihr Wissen nicht anwenden und davon leben.
Mein zweiter Begriff ist Abstinenz. Mittlerweile ist der von Sigmund Freud eingebrachte Begriff allgemein­gültiger Bestandteil jeder therapeutischen Beziehung auch ausserhalb der Psychoanalyse. Abstinenz ist ein theoretisches Konzept, das sich ganz allgemein mit der Frage beschäftigt, wie ich sicherstellen kann, dass mein therapeutisches Handeln nicht in meiner, sondern in der Realität meiner Patientinnen und Patienten verortet ist. Um abstinent zu sein, behalte ich meine Vorstellungen für mich und überlasse der zu ­behandelnden Person das Feld, um ihr zu ermöglichen, in meiner Gegenwart ihrer eigenen Innenwelt näher zu kommen. Es geht um die Wahrnehmungen, Ängste und Hoffnungen meiner Patientinnen und Patienten, die meiner inneren Welt total fremd sein können, und nicht um meine Ängste oder Hoffnungen. Gefühle der Auswegslosigkeit und des Ausgeliefertseins sind häufig Bestandteil unserer Sprechstunden. Die Machtlosigkeit des oder der Betroffenen seinen oder ihren Pro­blemen gegenüber überträgt sich auch auf uns Behandelnde, und wir möchten aus dieser passiven Ohnmachtsposition herausfinden. Aktivismus ist dann eine Form der Abfuhr von eigenen Spannungen und dient eher der eigenen Entlastung als der der betroffenen Person. Die Versuchung, diesem Aktivismus nachzugeben, sollte bemerkt und nach Möglichkeit in eine andere Form überführt werden. Auch schwierige Entscheidungen verursachen Spannungen, und das Erteilen eines Ratschlags kann Ausdruck von Aktivismus sein. Beziehe ich Position, hat die künftige Handlung meines Patienten resp. meiner Patientin in jedem Fall einen Bezug zu meiner Aussage. Es bleibt unklar, ­inwiefern sich die Betroffenen dadurch in ihrer eigenen Willensfindung beeinträchtigt fühlen. Nicht abstinent sein birgt in sich die Gefahr einer Verstrickung, von der wir häufig nur deren Folgen erfahren: Distanzierung, Konflikte in der Beziehung oder gar ein Be­ziehungsabbruch. Abstinent sein ist also mein Eingeständnis, dass ich für meine Patientinnen und Patienten eine besondere Rolle innehabe, und zwar nicht nur, was die Medizin betrifft. Dies nicht, weil ich ein besonderer Mensch bin, sondern weil mich eine hilfesuchende Person mit bewussten Bedürfnissen und unbewussten Wünschen dazu gemacht hat und ich dieser Herausforderung zugestimmt habe, indem ich die Person als Patientin resp. als Patienten angenommen habe.
Der dritte Begriff ist Wahrnehmungsfähigkeit. Der Psychoanalytiker Theodor Reik veröffentlichte 1948 seine Autobiographie mit dem Titel Hören mit dem dritten Ohr. Er schreibt: «Es erscheint mir das Wichtigste zu erkennen, was Sprechen verbirgt und was Schweigen offenbart.» Es gilt also, sowohl das Schweigen als auch das Sprechen als eine Stimme der bewussten oder unbewussten Regung anzuerkennen und das Nichtgesagte wie das Ausgesprochene nicht nur und nicht immer für bare Münze zu nehmen. Reik spricht sich auch aus gegen die «heilige Kuh der Objektivität», gegen das Jonglieren mit Terminologien, das Wissen vortäuscht, und setzt dem die Bedeutung der Phantasie und des instinktiven Erkennens entgegen. Dies bedeutet nicht bequemes Zurückweichen vor der Exaktheit wissenschaftlichen Denkens, sondern stellt höchste Anforderungen an unsere Präsenz, Offenheit und Schwingungsfähigkeit, aber auch an unsere ­Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Reik bricht eine Lanze für die produktive Kraft des Nichtverstehens, das nicht bedachte Möglichkeiten offenhält und vorschnelles Scheinverständnis aufhält. Theoretisch gespro­chen teilt sich dabei das Ich in einen beobachtenden und einen erlebenden Teil. Beide Teile gleichermassen wahrzunehmen, ihnen einen Wert beizumessen und nicht einfach als lästige Störung zur Seite zu schieben ist für mich der Schlüssel zur sogenannten ärztlichen Kunst.

Gegenseitige Abhängigkeit

Beziehungen sind keine fixen Grössen, sondern werden beeinflusst sowohl durch unsere Innenwelt als auch durch Dinge, denen wir von aussen ausgesetzt sind, wie aktuell die Covid-19-Pandemie. Vom Kratzen im Hals, der lästigen Geschmackseinbusse bis zum Tod binnen fünf Tagen kann von dieser Virusinfektion alles ausgehen. Wie beeinflusst diese akute Bedrohung die Begegnung mit unseren Patientinnen und Patienten? Die Pandemie war ein komplett unerwarteter ­Einbruch in unsere Leben, wir waren erschreckt und verstanden nicht. In der ersten Konfusion waren wir Ärztinnen und Ärzte unsicher, ob wir uns jetzt als zentrale Stützen des Gesundheitswesens engagieren oder uns nicht doch besser um uns und unsere betagten Angehörigen kümmern sollten. Wir orientierten uns an dem, was als objektiv und wirksam bezeichnet wurde, doch auch das erwies sich als Dilemma: Zeigen wir unseren ­Patientinnen und Patienten unsere eigene, kritische Position oder halten wir uns widerspruchslos an die Vorschriften, um nicht noch mehr Verwirrung zu stiften? Was unsere Sprechstunden im Kern tangiert, ist nicht eine quantitative, sondern eine qualitative Veränderung, nämlich die Tatsache, dass plötzlich nicht nur unsere Patientinnen und Patienten, sondern auch wir vom Virus befallen sein, es weiter verbreiten oder gar daran sterben könnten. Eine Patientin, ein Patient kann uns anstecken – diese Möglichkeit ist Teil unseres Berufsverständnisses. Aber die Möglichkeit, dass wir die Infektion an unsere Patientinnen und Patienten weitergeben und sie dadurch gefährden könnten, ohne dass wir es merken, ist unheimlich. Jeder Hustenanfall, den ich im Praxisraum habe, führt nicht nur zur höflichen Frage: «Sind Sie erkältet?», sondern wird quittiert mit einem unsicheren Blick: «Hat sie mich jetzt angesteckt?» Durch die Nichtwahrnehmbarkeit der Infektiosität schleichen sich bewusste und unbewusste Ängste ein, die unsere Beziehungsfähigkeit existentiell beeinträchtigen. Einige Patientinnen und Patienten brachten konkret die Angst zum Ausdruck, dass sie sich in meiner Praxis – oder meinten sie durch mich? – anstecken könnten, sie fühlten sich also mitunter durch meine schlichte Präsenz bedroht, was sehr verwirrend ist. Im Lockdown im Frühling wurden überall Behandlungen unterbrochen oder gar nicht erst aufgenommen. Obwohl wir in Bereitschaft waren, blieben unsere Praxen halb leer, dies traf uns auch ökonomisch. Die Pandemie hat uns deutlich ins Bewusstsein gebracht, dass die Patientinnen und Patienten nicht nur von uns, sondern auch wir von ihnen abhängig sind. Corona konfrontiert uns ganz konkret mit der Gegenseitigkeit von Verhältnissen. In Beziehungen ­besteht eine gegenseitige Abhängigkeit, aber natürlich keine Gleichheit. Unser Wissen im medizinischen ­Bereich ist grösser als das der Betroffenen, wir können aber nicht garantieren, dass wir unser Wissen immer und nur zu ihrem Wohl einsetzen. Sie können von uns erwarten, dass wir wohlwollend, abstinent und wahrnehmungsfähig sind, sie selber müssen das nicht sein. Wir brauchen unsere Patienten, weil wir ohne sie keine Ärztinnen sind, unser Wissen nicht anwenden und ­davon nicht leben können. Wenn wir uns diese gegenseitige Abhängigkeit eingestehen, wird es uns leichterfallen, die Beziehung zu ihnen auch nach unseren ­Vorstellungen mitzugestalten. Denn dann sind wir Ärztinnen und Ärzte plötzlich Teil von etwas und nicht einzigartig. Wichtig, aber nicht unersetzlich, sorgfältig und bemüht, aber trotzdem kann auch einmal etwas schiefgehen, wir übernehmen Verantwortung, tragen aber nicht die ganze Last.

Intersubjektivität und Balintarbeit

Ich kenne neben der Balintarbeit keine andere Art der Fortbildung, die dadurch, dass sie sich nicht nur «auf den Fall», sondern auf die Beziehung insgesamt fokussiert, alle Beteiligten gleichermassen in den Blick nimmt und dadurch eben auch die Besonderheiten und Subjektivität auf der Seite der Ärztin mituntersucht. Intersubjektivität ist – sehr zugespitzt gesagt – der einzige Inhalt der Balintarbeit. Corona zwingt uns, uns auch selber zur Disposition zu stellen, und darum ist ­Balintarbeit die ideale Untersuchungsmethode des ­Geschehens zwischen Arzt und Patientin.

Das Wichtigste in Kürze

• Wohlwollen, Abstinenz (Enthaltungsverpflichtung der behandelnden Person) und Wahrnehmungsfähigkeit sind zentrale Begriffe, die die Beziehung zwischen Behandelnden und Betroffenen prägen sollten.
• Die aktuelle Pandemie hat gezeigt, dass zwischen medizinischen Fachpersonen und Patientinnen/Patienten ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis besteht – nicht nur die Hilfe­suchenden sind auf ärztliche Expertise angewiesen, sondern die Helfenden (nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht) auch auf ihre Patientinnen und Patienten.
• Die Balintarbeit ist ein wichtiges Werkzeug, um die Beziehung zwischen der Ärztin resp. dem Arzt und der zu behandelnden Person zu reflektieren. Die Intersubjektivität steht dabei im Zentrum.

L’essentiel en bref

• La bienveillance, l‘abstinence (devoir de rester en retrait du professionnel) et la capacité de perception sont des concepts clés qui devraient caractériser la relation entre professionnels de la santé et patients.
• La pandémie actuelle a montré qu‘il existe une relation de dépendance mutuelle entre les professionnels de la santé et les patients : non seulement ceux qui ont besoin d‘aide dépendent de l‘expertise médicale, mais ceux qui apportent de l‘aide dépendent aussi de leurs patients (au niveau économique notamment).
• L’approche Balint, qui permet au médecin de se sentir lui-même patient, est un outil important pour réfléchir à la relation entre le médecin et la personne traitée. L‘intersubjectivité joue ici un rôle central.
keine
Dr. med. Sabine Geistlich
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