Die eigene Haltung auf dem Prüfstand

Briefe / Mitteilungen
Édition
2020/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19270
Bull Med Suisses. 2020;101(41):1307

Publié le 07.10.2020

Die eigene Haltung auf dem Prüfstand

Ich schreibe als einer derer, von denen der Autor vermutet, dass sie ihre eigene Haltung bislang als aufgeklärt wahrgenommen haben, sie nun aber auf den Prüfstand stellen. Aber ich habe schon immer ein gewisses Unwohlsein dabei empfunden. Mit der «Späten Erkenntnis» kommt eine solide Beschreibung des Status quo. Und für mich doch auch eine Benennung des Problems. Dafür vielen Dank.
Meine Vita enthält auch Arbeit als Arzt in Afri­ka, Publikationen zu den medizinanthropologischen Dimensionen der Medizin in Afri­ka/Europa und immer wieder private Kontakte nach Afrika. Wie der Autor bin ich mir keiner Verfehlungen bewusst, ich habe immer versucht, mich allen Situationen anzupassen und das Beste daraus zu machen.
Vorstellungen von Unter- oder Überlegenheit sind nicht nur systemisch und bestehen hartnäckig fort: Vor allem sind sie als solche oft nur schwer erkennbar. Die Grenzen verschwimmen im Alltag, Probleme sind in komplexe Zusammenhänge eingebunden. So ist «Überlegenheit» eine analytische Kategorie, die für mich (und andere) oft nicht erfahrbar ist. Ebenso wie ich auch einem Patienten eine Behandlungs-Empfehlung nur nach bestem Wissen und Gewissen geben kann, eben was mir in der Situation möglich und richtig erscheint.
Mit der Schlussfolgerung, das alles zum Thema zu machen und eben zuzulassen, dass nicht alles ein für alle Male geklärt ist, gehe ich vollständig mit. Auch wenn ich mich eigentlich nicht von Themen wie Lynchmord oder Vergewaltigungen angesprochen fühle, weil ich immer hoffte, darüber wären wir hinaus. Aber sie sind eben nur die Spitze eines Eisberges. Und stellen mein Bild von der Entwicklung, die ich als Nachkriegskind so positiv erlebt habe, immer mehr in Zweifel.