Über toxische und nichttoxische Metaphern

Horizonte
Édition
2020/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19259
Bull Med Suisses. 2020;101(44):1481

Affiliations
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publié le 27.10.2020

In seinem letzten, posthum veröffentlichten Streiflicht beschrieb Erhard Taverna diesen Juni, wie Sprache durch rassistische oder sexistische Stereotypen «toxisch» werden kann. Oder zumindest, wie diese Sprache unter Kritikern als «toxisch» bezeichnet wird [1]. Ein medizinisches Publikum versteht unter Toxizität hingegen erst einmal die komplexe Eigenschaft von Substanzen, den Lebensfunktionen von Organismen zu schaden oder ihr Leben zu bedrohen. Taverna benutzte stattdessen die sich derzeit ausbreitende Metapher des «Toxischen», die aus dem Medizinischen entlehnt ist. Kein Zufall, denn Taverna führte die SÄZ beständig über den medizinischen Tellerrand hinaus und suchte nach dem «Puls der Zeit» – womit ich ebenfalls in das Feld der medizinischen Metaphern gerutscht bin.
Der Begriff «toxisch» ist in den letzten Jahren in den nichtmedizi­nischen Raum diffundiert. «Toxisch» bedeutet hier nicht einfach etwas mit schädlicher Wirkung, sondern eher etwas Hinterhältiges oder Gefährdendes, das seine Umgebung unangenehm durchdringt. Heute kann alles und jedes irgendwie toxisch sein. Menschen wird eine toxische Persönlichkeit nachgesagt. Orte oder Situationen sind oder werden toxisch.
Am häufigsten hört und liest man bei uns derzeit von «toxischer Männlichkeit», ein aus dem Englischen übernommener Terminus. Das meint in etwa die schlechtesten Eigenschaften, die Männern unterstellt werden: Gewalttätigkeit, Sexismus, Egoismus, Dominanz etc.

Metaphern als Spiegel des Zeitgeistes

Metaphern werden nicht völlig zufällig aus der Medizin ex- oder in sie importiert. Als die Bakteriologie in einem recht kriegsbegeisterten Zeitalter entstand, ­bediente sie sich gerne der Kriegsmetaphern. Etwas Analoges entdeckte der Zeit-Feuilletonist Hanno Rauterberg [2] beim Modebegriff «toxisch». Dieser «Jargon der Strahlungs- und Schadstoffbeauftragten» sei bös­artig. Ein Egomane oder Widerling habe immerhin die Chance, sich charakterlich zu bessern. «Doch was soll ­jemand machen, dem man ein Giftwarnzeichen aufklebt? [...] Dem als toxisch deklarierten Mann bleibt kaum mehr, als sich in die nächstbeste Schadstofftonne zu verkriechen.» Mit diesem Determinismus werde der Einzelne auf seine chemisch-biologische Existenz reduziert. Und das wiederum sei ein Zeichen, dass es keinen Glauben mehr gibt, «mit Empathie, offener Kritik, gar mit diskursiver Politik an den schlechten Sitten oder auch am Zustand der Welt etwas ändern zu können».
Ganz so schicksalhaft wie bei Rauterberg sind Ver­giftungen aber bekanntlich nicht. Menschen können Giftattacken überleben. Entgiftung ist mö­glich. Man denke nur an die ebenso beliebten wie umstrittenen «Detox»-Kuren. Überhaupt ist der medi­zinische Toxizitätsbegriff eigentlich viel vorsichtiger. Schädlichkeit ist dort vor allem von der Dosis abhängig.
Eine Erklärung für diese Widersprüche mag sein, dass Metaphern ein Eigenleben entwickeln. Ein plastisches Beispiel hierfür ist die Virusmetapher. Das Computer­virus symbolisiert seit den 1980ern das hinterhältig Schädliche, das sich unkontrolliert ausbreitet. Bereits in der postmodernen Zeit wurde die Virusmetapher aber auch positiv als «Inbegriff des Widerständigen und Sperrigen» gebraucht [3]. Und spätestens seit Werbungen, Memes oder Aktionen im Internet «viral gehen», klingt das ­Unkontrollierbare nach Freiheit und Abenteuer [2]. Mit Corona hat sich dieses Image möglicherweise wieder verschlechtert. Ich denke aber auch, dass sich die ­Virusmetapher so weit verselbständigt hat, dass wir dabei nicht immer und automatisch an COVID-19 denken. Beim «Puls der Zeit» kommt heute auch kaum jemandem das Fühlen der verschiedenen Pulsqualitäten aus der Vormoderne in den Sinn.
eberhard.wolff[at]saez.ch