Wissen der Betroffenen viel zu selten ernsthaft genutzt

Briefe / Mitteilungen
Édition
2020/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19105
Bull Med Suisses. 2020;101(3132):933

Publié le 28.07.2020

Wissen der Betroffenen viel zu selten ernsthaft genutzt

Sehr geehrte Frau Therese Stutz Steiger, sehr geehrte Frau Bérengère Rozier Aubry, liebe Kolleginnen
Ihr Bericht über den internationalen Kongress für Glasknochenkrankheiten hat mir sehr gut gefallen. Die Erkenntnis, dass Betroffene sehr viel über ihre Krankheit wissen, ist nicht neu; trotzdem wird dieses Wissen viel zu selten ernsthaft genutzt. Ihre Forderung «Working together, patients and professionals» unterstütze ich voll und ganz, sie scheint mit gerade für die Begleitung und Betreuung von Menschen mit chronischen Krankheiten – auch seltenen Krankheiten – äus­serst wichtig zu sein. Der partnerschaft­liche Dialog und persönliche Austausch zwische­n Betroffenen, Angehörigen und Fach­ex­per­tinnen und Fachexperten fördert die Vertrauensbildung und erlaubt es, auch Alltagsprobleme der Patienten aufzunehmen und dafür Lösungsansätze zu suchen. Ich selbst habe die Kraft eines ehrlichen Dialoges zwischen Betroffenen und Fachleuten anlässlich einer Veranstaltung zum Thema «Überleben bei Krebs» gespürt. Die Krebsliga Schweiz und das nationale Krebsregister NICER hatten zum Frühlingsanfang 2018 zu einer «Begegnung» zwischen 40 Krebsüberlebenden und 40 Fachexperten eingeladen. Die Worte «Tagung», «Seminar», «Workshop» und dergleichen wurden vermieden, um den Dialog­charakter der Veranstaltung hervorzuheben. Es wurde an runden Tischen diskutiert, die Anliegen der Patienten und Patientinnen standen im Vordergrund. Es kamen Themen zum Vorschein, die sonst in der Wissenschaft kaum diskutiert worden wären, sie umfassten alle Lebensbereiche (Kommunikation mit Angehörigen, Ängste, soziale Probleme, Beziehungsverluste, Müdigkeit, Arbeitsplatzschwierigkeiten, Versicherungsprobleme etc.). Für mich als Epidemiologe war es eindrücklich, wie sich an diesem Begegnungstag die Statistiken zu den «Cancer survivors» in reale Menschen mitsamt ihren Emotionen und Anliegen transformierten. Ich spürte, wie wichtig und wertvoll es ist, die Anliegen der Betroffenen im Dialog aufzunehmen und uns gegenseitig darin zu unterstützen, die eigenen Ressourcen zu stärken. Wie in der von Ihnen erwähnten holländischen Tagung war die Stimmung im Saal sehr aufgeräumt und positiv. Die Evaluationen zur «Frühlingsbegegnung» fielen auf beiden beteiligten Seiten positiv aus, für mich war es die wertvollste Veranstaltung in meinem professionellen Leben. Es ist zu hoffen, dass im Gesundheitssystem der Zukunft weitere solche Räume für einen empathischen und wertschätzenden Dialog zwischen Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen geöffnet werden.