Premio Pusterla 2020 Junior, 2. Platz

In Würde sterben, in Würde leben

Horizonte
Édition
2020/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19080
Bull Med Suisses. 2020;101(37):

Affiliations
Medizinstudentin, Universität Zürich

Publié le 08.09.2020

Sie wusste bereits nicht mehr, wo sie das Geschirr in der eigenen Wohnung versorgen musste, als sie ihren Entscheid fällte. Mit diesen Worten beginnt Heiner (83, Name geändert) mir von seiner Frau Rose (Name ebenfalls geändert) zu erzählen, die vor sechs Jahren, nachdem sie die Diagnose Alzheimer erhalten hatte, mithilfe von Exit aus dem Leben schied. Tränen glänzen in seinen hellblauen Augen und er sieht mich traurig an. Er erinnert sich an den Tag des Abschieds, als wäre es gestern gewesen. Auf der Terrasse bei schönem Wetter noch einen letzten Moment des Zusammenseins geniessen, bevor alles in ein endloses Schwarz getaucht würde. Ich erfahre, dass man Rose anschliessend gleich mitgenommen hatte. Da, wo gerade noch Leben war, Berührungen, Zärtlichkeiten und Worte, die man sich für diesen Moment zurechtgelegt hatte, breitete sich nun eine bleierne Stille aus. Auch zwischen uns ist ein Moment des Schweigens getreten, in dem Heiner einen Schluck aus seinem Glas trinkt. Mir wird bewusst, wie sehr er unter diesem auch für sein Leben folgenschweren Entscheid leidet. Ich bin sehr betroffen und erkenne, auch wenn ich mich als Medizinstudentin erst im ersten Semester befinde, wie gross die Tragweite ärztlichen Handelns sein kann. Zu diesem Zeitpunkt weiss ich aber noch gar nicht, wie viele weitere Gedanken über diese Geschichte mich noch lange nach unserem Gespräch beschäftigen sollten.
Heiner erzählt mir, dass sich seine Frau für einen begleiteten Freitod entschieden hatte, da die beiden mehrere Bekannte hatten, die an einer Demenzerkrankung im fortgeschrittenen Stadium litten und Rose sich vorstell­te, dass es auch bei ihr eines Tages so enden könnte. Sie hatte Angst vor der totalen Hilflosigkeit und Schwäche, vor dem Verlust jeglicher Orientierung und Selbstkontrolle, die sie bei ihren Bekannten oft genug miterlebte. Da sie im Gegensatz zu Heiner langjähriges Mitglied bei Exit gewesen war, hatte sie sich dazu entschieden, dort die Beihilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen. Bis es aber so weit war, musste Rose viele Abklärungen, Untersuchungen und Gespräche mit Ärzten führen. Natürlich kann ich nicht die Gedanken der Ärzte lesen, als sie vor der Aufgabe standen, zu beurteilen, ob Rose ihrem Leben ein Ende setzen dürfe. Dennoch möchte ich hier versuchen zu überlegen, wie die Ärzte zu einem Entscheid gekommen waren und ob dieser für mich nachvollziehbar ist.
Freitodhilfe stellt an sich bereits einen grundlegenden ethischen Konflikt dar, da es sich für die einen dabei um eine Extremform handelt, Leiden zu lindern, während es andere als dekadent und fantasielos ansehen, wenn selbst das letzte Geheimnis unseres Lebens zum Gegenstand unserer Risikokalkulationen wird. Die Tatsache, dass Rose an einer Demenzerkrankung litt, macht daraus ein noch komplexeres ethisches Pro­blem. Es war die Aufgabe der Ärzte zu entscheiden, entweder Roses Wunsch nach einer Freitodbegleitung nachzukommen, so dass sie sterben könnte, bevor ihre Demenzerkrankung ihr möglicherweise ein selbstständiges Leben unmöglich machen würde oder sie gegen ihren Willen am Leben zu lassen, mit der Gefahr, sie in eine Situation zu bringen, in die sie nie hätte kommen wollen.
Bevor ich mir aber über die ethischen Prinzipien, die hier miteinander konkurrieren, Gedanken mache, setze ich mich mit den Gesetzen, die bei diesem Fall im Spiel sind, auseinander. Ich erfahre, dass es in der Schweiz erlaubt ist, sterbewilligen Personen, die an eine­r Demenzerkrankung leiden, Beihilfe zum Suizid zu leisten. Voraussetzung ist aber, dass die erkrankte Person noch urteilsfähig ist, was bedeutet, dass es nur im Anfangsstadium einer Demenzerkrankung möglich ist, Suizidbeihilfe zu erhalten. Die Urteilsfähigkeit muss sehr sorgfältig geprüft werden, da es sich um eine Entscheidung von enormer Tragweite handelt und es wichtig ist, dass sich die betreffende Person ihre­r Sache wirklich sicher ist.
Nachdem ich also erfahren habe, dass es grundsätzlich erlaubt ist, Rose Beihilfe zum Suizid zu gewähren, versetze ich mich in die Rolle der Ärzte und versuche dere­n Entscheidungsprozess nachzuvollziehen. Einerseits ist es einem Arzt aufgetragen, gemäss dem Prinzip der Schadensvermeidung schädliche Eingriffe zu unterlassen. Andererseits sollte immer der Respekt vor der Autonomie des Patienten gewahrt werden. Es ist in diesem Fall unmöglich, Rose nicht zu schaden und gleichzeitig ihrem Wunsch nachzukommen. Dies bringt den Arzt in die schwierige Situation, diese Prinzipien gegeneinander abzuwägen. Aber wie sieht es bei einer Patientin wie Rose aus, die bereits eingeschränkte kognitive Fähigkeiten hat? Können wir da überhaupt noch von Autonomie sprechen? Kann es vielleicht auch sinnvoll sein, dem Wunsch der Patientin zu ihrem eigenen Wohl nicht nachzukommen? Zuerst würde ich sicherstellen, dass sich Rose der Konsequenzen ihrer Entscheidung vollumfänglich bewusst ist, was auch über einen längeren Zeitraum geprüft werden müsste. Als wichtig erachte ich es auch, herauszufinden, ob Rose nicht unter Druck handelt, also ob sie sich nicht einfach davor fürchtet, wertlos zu sein, insbesondere, da sie ihren Willen mit der Angst, hilflos und abhängig zu werden, begründet. Diese Befürchtung kann auch aus unserer Leistungsgesellschaft heraus entstehen. Für viele Menschen ist es unvorstellbar, im hohen Alter wieder abhängig von anderen zu werden, und einige möchten ihrem Leben daher selbstbestimmt ein Ende setzen. Dass es aber ein ganz natürlicher Prozess ist, dass wir Menschen gegen Ende unseres Lebens wieder auf andere angewiesen sind, wird leider oft vergessen. Erst wenn somit feststeht, dass die betreffende Person nicht unter Druck handelt, kann man den Wunsch als autonome Entscheidung gewichten.
Auch das Prinzip des Wohltuns muss in die Entscheidung einfliessen und ich frage mich, ob man mit der Zustimmung zu Roses Suizid Wohltun fördert und ihr damit tatsächlich Leid erspart. Wir wissen gar nicht, wie sich Roses Krankheit weiterentwickeln wird und vielleicht hätte sie gar nicht die späten Phasen der Erkrankung erlebt, weil sie schon vorher eines natür­lichen Todes gestorben wäre. Bis dahin aber hätte sie möglicherweise noch ein glückliches und erfülltes Lebe­n gehabt. Vielleicht aber hätte sie auch, sei es bei ihrem Mann zu Hause oder in einem professionellen Heim für Demenzerkrankte, ein gutes Leben mit ihrer Erkrankung führen können.
Neben all diesen Aspekten, die sich auf Rose beziehen, stellt sich für mich aber auch noch die Frage nach den Auswirkungen eines solchen Entscheids auf die Angehörigen. Hier möchte ich meinen ersten intuitiven Gedanken aufgreifen, der mir den Entscheid der Ärzte aufgrund der Folgen für Heiner unbegreifbar machte. Vor mir sitzt ein gebrochener alter Mann, der während unseres Gesprächs immer wieder an seinem Whiskeyglas nippt und der auch Jahre nach diesem Ereignis noch so sehr darunter leidet, dass er die Einsamkeit und das Trauma, das der Freitod seiner Frau bei ihm hinterlassen haben, nur mühsam mit Alkohol niederringen kann. Vielleicht wäre es für ihn einfacher ge­wesen, mit einem natürlichen Tod seiner Frau umzugehen. Andererseits weiss ich auch, wie anstrengend und belastend es für Angehörige sein kann, für ihre demenzerkrankten Partner zu sorgen oder sich für eine Verlegung in eine spezielle Institution für Demenzkranke entscheiden zu müssen. Man sollte sich aber als Arzt bewusst sein, dass ein solcher Entscheid, wie er bei Rose gefällt wurde, auch beträchtliche Folgen für das Umfeld haben kann und dass das Leiden der Angehörigen dabei nicht vergessen werden darf.
Unsere moralischen Grundüberzeugungen haben entscheidenden Einfluss auf die Gewichtung der verschiedenen Prinzipien und Aspekte. Wer beispielsweise den Schutz menschlichen Lebens als oberstes moralisches Gebot anerkennt, hätte Rose die Freitodbegleitung eher verweigert als jemand, für den die Autonomie des Patienten im Vordergrund steht. Wenn ich nun in der Rolle des Arztes diese verschiedenen Prinzipien gegeneinander abwägen müsste, käme ich wahrscheinlich auch zu dem Entscheid, Roses Wunsch nachzukommen, da es sich um ihr Leben handelte und sie somit im Mittelpunkt der Entscheidung stand. Jedoch nur, wenn man sichergehen kann, dass sich Rose ihrer Entscheidung vollumfänglich bewusst wäre und sich auch darüber klar wäre, welche anderen Möglichkeiten es für sie gäbe. In der Auseinandersetzung mit diesem heiklen Thema wird mir erst klar, wie schwierig es ist, all diesen Prinzipien gerecht zu werden und wie komplex solche Entscheide sind. Wenn ich sehe, wie Heiner in dieser unendlichen Traurigkeit und Einsamkeit eingekapselt ist und als einzigen Ausweg den Alkohol gefunden hat, wird mir auch bewusst, von welcher Tragweite solche Entscheide sein können.
amely.walser[at]uzh.ch