Humanitärer Einsatz «Mission 01» in Benin, 2019

«Bonjour, et la famille?»

Horizonte
Édition
2020/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19054
Bull Med Suisses. 2020;101(36):1091-1093

Affiliations
Dr. med., Fachärztin für Anästhesiologie, CAS Psychosomatische und psychosoziale Medizin, Mitglied FMH, SGAR, SGNOR, SMSH

Publié le 01.09.2020

Mitten in der Nacht lautes Donnern und tosender Regenguss! Wie wenn ich unter einem riesigen Wasserfall liegen würde. Ich öffne die Augen und orientiere mich kurz: Ich bin im Guesthouse in Cotonou und befürchte, dass die Wassermengen mein Zimmer im Erdgeschoss überfluten. Soll ich anstelle von mir das Gepäck ins Bett legen? Ich wäre schneller getrocknet als die z.T. wasserempfindliche Fracht.
Dies ist meine letzte Nacht in Benin nach einem dreiwöchigen humanitären Einsatz in einem Zonenspital im Norden von Benin, genauer im Hôpital évangélique de Bembèrèkè (HEB). Zum Abschluss ist ein touristischer Sightseeing-Tag an der Küste geplant, bevor ich um Mitternacht den Flieger nach Hause besteige. Es treibt mich aus dem Bett, und ich sehe im Schein der Taschenlampe, dass der Vorplatz des Hauses sich in einen See verwandelt hat; noch knapp zwei Zentimeter Schonfrist vor dem «Dammbruch». Glück gehabt!
Wartebereich des Hôpital évangélique de Bembèrèkè (HEB).

Improvisieren ist unsere Kunst

Im August 2018 begann die Planung für unseren Einsatz im Norden von Benin, betitelt als Mission 01, unter dem Patronat der Stiftung Faaba. Faaba bietet Hilfe zur Selbsthilfe in den Bereichen Gesundheit und Bildung an. Sie unterstützt das Zonenspital HEB finanziell beim Bau von Aussenkliniken und einem Röntgeninstitut, dem Kauf von Gerätschaften und Mobiliar und der Lieferung von Material, das in der Schweiz ausgemustert wird. Dabei werden neben Betten, Operationstischen und Überwachungsgeräten auch Krücken, Verbands- und Kleinmaterial für den Spitalalltag gesammelt. Das HEB hat ein Einzugsgebiet von 500 000 Menschen und ist als renommiertes Spital auch über die Landesgrenze hinaus bekannt. Das neue Ziel der Stiftung ­Faaba ist es, vor allem medizinisches und technisches Know-how zu überbringen, damit das einheimische Personal vor Ort die Bevölkerung optimal versorgen kann. Das diesjährige Einsatzteam besteht aus dem Projektleiter und Anästhesiepflegefachmann Daniel Kora, der Orthopädin Pia Zurmühle und mir als Anästhesistin. Wir haben das grosse Glück, dass Daniel Kora im Norden von Benin aufgewachsen ist und auch im HEB seine Grundausbildung der Krankenpflege absolviert hat. So ist ein guter Kontakt zur Spitalleitung ohne kulturelle Schranken möglich, was die verschiedenen Verhandlungen enorm erleichtert. Vor vier Jahren waren wir im Rahmen eines vorlaufenden Projektes das erste Mal im HEB und versorgten dabei zusätzlich die Anästhesiepflege mit Fachwissen und Material. Die aktuellen Erkundigungen beim Chefarzt, den leitenden Pflegefachpersonen und dem Direktor des HEB bezüglich ihrer Bedürfnisse ergaben folgenden Bedarf: Wissenstransfer von orthopädischen traumatologischen Eingriffen und anästhesiologischen Techniken der Regional- und Kinderanästhesie, Unterstützung in der Weiterbildung der Pflegefachpersonen in der Überwachung und Therapie von schwerkranken und postoperativen Patienten, ­Unterstützung im Erstellen eines neuen Wundkonzeptes und in der Weiterbildung der Ärzte in Ultraschall-Diagnostik. Dementsprechend bereiteten wir uns auf die Mission 01 vor, indem wir das benötigte Fachwissen vertieften. Mit viel Enthu­siasmus und geopferter Freizeit sorgten wir dafür, dass das benötigte Material gesammelt und eingekauft wurde. Ein Container wurde drei Monate vor unserer Abreise gefüllt und losgeschickt.
In der ersten Woche der Mission 01 wurden alle Patienten, die über Radio und Mundpropaganda über die bevorstehende Mission informiert worden und ins Spital geströmt waren, vom Chefarzt und Pia Zurmühle gemeinsam ambulant visitiert, triagiert und zur bevorstehenden Operation vorbe­reitet.
Ich bin voller Vorfreude, das Team nach vier Jahren wiederzusehen, und bin sehr gespannt, was sich ver­ändert hat. Vor meiner Abreise erfahre ich, dass der geschickte Container noch immer im Hafen von Cotonou liege und vielleicht gar nicht in der Zeit unserer Mission das HEB erreiche. Korruption gibt es leider auch in Benin. Nun gut, improvisieren ist ja unsere Kunst.

Beeindruckt vom Team

Täglich stehen bis zu vier Patienten mit Pseudoarthrosen auf dem OP-Programm. Die Zusammenarbeit und das Teaching von Pia mit dem Chefarzt ist rasch eingespielt und sehr erfolgreich. Ohne Bildverstärker, der noch immer im Container im Hafen von Cotonou wartet, werden die oft schwierigen Pseudoarthrosen mit viel Geschick osteosynthetisiert. Als Anästhesieverfahren wird ­jeweils ein peripherer Nervenblock zur postoperativen Analgesie und eine Spinalanästhesie oder CSE ­gemacht. Das Lehren der peripheren Nervenblockaden hat für mich einen hohen Stellenwert zur Verbesserung der postoperativen Schmerztherapie. Denn es ist üblich, dass die Patienten ihre benötigten Medikamente selber kaufen müssen, weshalb die Analgesie oft unzureichend ist. Ich bin beeindruckt vom Anästhesieteam, das aus zwei ausgebildeten Anästhesiefachpflegern und zwei angelernten Anästhesiepflegern besteht. Sie gewähren einen 24-Stunden-Dienst über 365 Tage. Auch das Auffrischen der intravenösen Anästhesie und Etablieren des Atemweges mit CO2-Messung sind bei den beiden angelernten Anästhesiepflegern ein gewünschtes Lernziel. Sie alle haben «goldene» Hände und eine sehr schnelle Auffassungsgabe.
Das Team der Mission 01: Barbara Reut Schatzmann, Daniel Kora, Pia Zurmühle (von links nach rechts).
Neben den orthopädischen Eingriffen werden im zweiten Operationssaal viele Notfälle operiert: Kinder mit Abszessen oder mit abdominaler Wunddehiszenz, Notfall-­Sectios, gynäkologische und viszerale Notfall­eingriffe. Täglich kommen auch septische Patienten mit Peritonitis bei Hohlorganperforation in den OP. Die Operation ist aber erst der Beginn der Therapie; die postoperative Weiterbetreuung der Patienten findet im Überwachungszimmer statt, das nahe dem Pflegebüro liegt. Die Familienangehörigen sind als «garde de malade» immer am Bett und rufen die Pflegefachkräfte bei Veränderung des Zustandes ihres kranken Verwandten.
Neben meiner Arbeit im Operationssaal bin ich an drei verschiedenen Schulungen als Instruktorin beteiligt: Wundversorgung, postoperative Überwachung sowie Therapie des kritisch kranken Patienten und Ultraschalldiagnostik. Ich arbeite eng mit zwei engagierten Stationsleitern zusammen; wir planen und führen die Weiterbildungen gemeinsam durch. Die verschiedenen Berufsgruppen (Ärzte, Pflegefachkräfte, Hebammen und Hilfspflegefachkräfte) sind hoch motiviert, freudig am Mitdiskutieren und schätzen es sehr, Neues zu lernen. Parallel dazu werden von Daniel die mitgebrachten Monitore den örtlichen Umständen angepasst und nach der Schulung des Personals auf die Abteilungen verteilt. Begeistert beobachte ich bei meinen spontanen Besuchen auf den Abteilungen, dass der Umgang mit den Patienten und deren Versorgung an die neuen Erkenntnisse angepasst und diese direkt praktisch umgesetzt werden. Einem schwer septischen Patienten konnte somit geholfen werden. Leider verstarb aber ein 12-jähriges Kind zwei Tage später im ähnlichen Krankheitsbild an einem Lungenversagen. Freude und Leid wechseln sich im afrikanischen Spitalalltag allzu schnell ab. Der Wunsch des Teams vor Ort ist der Aufbau einer Überwachungsstation für kritisch kranke Patienten. Bis eine solche Station Realität wird, ist es aber noch ein weiter Weg, denn nicht nur die baulichen Massnahmen und Geräte, sondern auch das Know-how der Ärzte und Pflegefachkräfte muss vorhanden sein. Ob der Aufbau einer solchen Therapiestation Sinn macht, hängt ausserdem von den örtlichen und finanziellen Möglichkeiten ab. Das Ziel muss sein, dass jene Patienten therapiert werden, die wieder in einem guten Allgemeinzustand nach Hause entlassen werden können.
Die Anästhesie ist auch für Notfälle zuständig. So muss ich einmal nachts einen Patienten nach Intoxikation mit Düngungsmittel in desolatem Zustand intubieren. Aber anstelle einer Beatmungsmaschine und weiterer Betreuung auf der Intensivstation wird die Familie instruiert, ihren Angehörigen mit dem Ambu-Beutel zu beatmen, bis sich seine Vigilanz und Atmung wieder normalisieren. Der Patient hat ohne neurologische Ausfälle überlebt und das Spital zwei Tage später verlassen.
Zwei Wochen nach unserer Ankunft wird der Container endlich aus dem Hafen entlassen und ins HEB transportiert. Mit vereinten Kräften wird das Material ausgepackt, gelistet und in die richtige Abteilung bzw. in verschiedene Lagerräume verteilt.
Supervision einer Regionalanästhesie.

Dem afrikanischen Stil angepasst

Meine letzte Woche im HEB ist streng, ausgefüllt mit Schulungen, bis in die Nacht reichenden OP-Programmen und einer Lagerräumung. Per Zufall entdecke ich in einem überdachten Container tausende abgelaufene Medikamente kreuz und quer in und ohne Schachteln, die aus medicolegalen Gründen nicht mehr abgegeben werden dürfen. Zu viert haben wir in zwei Tagen den ganzen Container geleert, sortiert und dabei noch brauchbare Medikamente, Kleinmobiliar und anderes noch verwendbares Material gefunden. Diese Aktion verdeutlicht, dass in Zukunft im Bereich der Logistik und Abfallentsorgung die Unterstützung unsererseits ein grosser Gewinn für das Spital sein wird.
Die Rückreise verläuft problemlos. Ich bemerke, dass ich mein Schritttempo dem afrikanischen Stil angepasst habe und immer als Letzte und ohne Hast das Gate und die Gepäckannahme erreiche. Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Einsatz, wo ich wieder wie üblich mit «Bonjour, et la famille?» begrüsst werde.
Weitere Informationen über die Stiftung Faaba unter www.faaba.org
dr.reutschatzmann[at]hin.ch