Grüezi Schweiz!

«Manchmal vermisse ich meine Familie, den Wind und das Meer»

Tribüne
Édition
2020/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18947
Bull Med Suisses. 2020;101(2526):824-826

Affiliations
a Managing Editorin, Schweizerische Ärztezeitung

Publié le 17.06.2020

Rund ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz kommt aus dem Ausland. Weshalb haben sie sich für ein Leben hierzulande entschieden? Welches sind kulturelle Stolpersteine, die es zu umschiffen gilt? Und was halten sie von der Schweizer Gesundheitspolitik? Diesen und weiteren Fragen möchten wir in der Artikelserie «Grüezi Schweiz» nachgehen. In dieser Ausgabe berichtet die Niederländerin Inge Eriks-Hoogland (49), wie sie und ihre Familie den Weg nach Nottwil fanden.
Schon fast 14 Jahre ist es her, dass Inge Eriks-Hoogland entschied, in die Schweiz zu ziehen und als Medical ­Officer in der Schweizer Paraplegiker-Forschung in Nottwil anzufangen. Sie war zu diesem Zeitpunkt Leitende Ärztin in der Reha-Abteilung in Amsterdam. «Es ging um eine Schweizer Kohortenstudie für Personen mit Querschnittlähmung. Dieses Projekt war für mich sehr spannend, weil es Forschung und ­Klinik miteinander kombiniert hat.» Da auch ihr Mann die Möglichkeit erhielt, für ein Schweizer Unternehmen tätig zu werden, war die Entscheidung klar: Familie Hoogland zieht mit ihrer kleinen Tochter von Amsterdam nach Nottwil.

Gälled Sie?

Über eventuelle sprachliche Probleme im Beruf hatte sich Inge Eriks-Hoogland vor der Auswanderung keine grossen Gedanken gemacht. «Ich glaubte, Deutsch und Schweizerdeutsch werden schon nicht so unterschiedlich sein», erinnert sie sich. Doch viele Begriffe wie ­beispielsweise «obsi» und «nidsi» hatte die Niederländerin nie zuvor gehört, ebenso nicht «gälled Sie», also die Höflichkeitsform von gell. Und auch an die verschiedenen Mundarten musste sie sich erst gewöhnen. Dementsprechend schwer fielen ihr anfangs die Pa­tientengespräche und das Berichteschreiben. Letzteres insbesondere dann, wenn sie sich differenziert äussern sollte, wie beispielsweise gegenüber der IV.
Ein bisschen Französisch spricht und ein wenig Italienisch versteht Inge Eriks-Hoogland ebenfalls. «Das ist besonders im Dienst von Vorteil, weil nicht immer ein französisch- oder italienischsprachiger Kollege vor Ort ist». Falls es doch mal schwierig wird, niemand vom Personal und auch kein Verwandter übersetzen kann, gibt es aber auch Dolmetscher im Haus. «Das ist eine super Dienstleistung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.»
Und wie reagieren die Schweizer auf ihren holländischen Akzent? «Der war nie ein Problem», sagt Inge Eriks-Hoogland und lacht. «Im Gegenteil – er hat mir eher Sympathiepunkte eingebracht, vor allem bei Pa­tienten, weil ihn einige Schweizer offenbar ‘härzig’ finden.»

Offenheit vs. Verschwiegenheit

Nicht nur an die Sprache, auch an die Arbeitskultur musste sich Inge Eriks-Hoogland erst einmal gewöhnen. «Holländer sind bekannt für ihre Offenheit und ihre Direktheit. Hier in der Schweiz ist das sicherlich nicht so», sagt sie. «Schweizer haben eine grosse Kompetenz zu schweigen, wenn ihnen etwas nicht passt.» Anfangs war sie deshalb verunsichert, wenn auf einen ihrer Vorschläge keinerlei Feedback kam. «In Holland würde man sagen: Danke für deine Arbeit, aber wir sind einer anderen Meinung. Hier in der Schweiz kann das Schweigen aber auch bedeuten, dass der Vorschlag den anderen nicht passt oder dass sie davon ausgehen, dass du wie bisher weitermachst.»
Diese Verschwiegenheit beobachtet Inge Eriks-Hoogland auch in der Schweizer Fehlerkultur. «Ich habe den Eindruck, dass man hier weniger über seine Ängste und Fehler sprechen darf als in Holland. Das ist etwas, was mich manchmal stört. Denn zur Lernkultur gehören auch Ängste und Fehler dazu.» Man soll sagen können, dass man etwas nicht weiss oder dass man eine Fehlentscheidung getroffen hat. Gerade in der ­Medizin könne man nicht alles richtigmachen, schon gar nicht, wenn man frisch von der Uni kommt. «Neue Kollegen müssen Erfahrungen sammeln, lernen und wenn notwendig Expertenwissen einholen können. Und sagen dürfen, dass man sich Hilfe geholt hat.»
Doch es gebe auch einiges, was sich die Niederländer von den Schweizern abgucken können, sagt sie. «Wenn sich die Schweizer beispielsweise entscheiden, etwas zu machen, dann wird es auch gemacht – und zwar gut. Das fängt schon im Turnverein an; wenn ein Flyer für den Jahresauftritt gedruckt wird, sieht dieser einfach schön aus.» Und auch im Job könne man sicher sein, dass bei einem neuen Projekt alles von A bis Z durchdacht und vorgeplant wurde. «Aber nicht jede Entscheidung braucht ein ausführliches Konzept und eine Reihe von Sitzungen», sagt Inge Eriks-Hoogland. Manchmal müsse man auch mutig sein und eine Sache einfach anpacken, denn man könne nicht alles vorhersehen. «Ein gelungenes Beispiel hierfür ist die neu gestaltete ParaWG, eine Rehawohngruppe für Jugendliche und Jungerwachsene, in die im Juli 2020 die ersten acht Bewohner einziehen werden.» Auf dieses Projekt ist die Niederländerin sehr stolz. «Da hat die Kombination aus Mutigsein und Konzepterstellen bestens geklappt.»
Inge Eriks-Hoogland beim Segeln auf dem Thunersee (Foto: Inge Eriks-Hoogland).

Beim zweiten Kaffee ist es Zeit zu gehen

Auch im Privatleben machten sich manche kulturellen Unterschiede bemerkbar. Inge Eriks-Hoogland erinnert sich zum Beispiel mit einem Schmunzeln an das erste Abendessen, das sie und ihr Mann bei sich zu Hause für die neuen Kollegen ausgerichtet haben. «In Holland gibt es nach dem Essen immer ein Dessert und dann Kaffee. Und wenn die zweite Runde Kaffee serviert wird, dann bedeutet es, dass die Party langsam vorbei ist.» Doch keiner der Schweizer Kollegen kannte dieses geheime Zeichen. Und die Hooglands verstanden nicht, warum alle sitzen blieben. «Bis irgendwann jemand sagte, dass man jetzt noch einen Schnaps zusammen trinken könne. Da haben wir dann gedacht: Ah, das ist die Regel. Also gab es eine Runde Schnaps, und es war ein langer, gemütlicher Abend!»
Ein weiteres Erlebnis war die erste Schweizer Geburtstagsparty. «Wir haben, wie in Holland üblich, allen ­Familienangehörigen die Hand gegeben und ihnen gratuliert. In meiner Heimat wäre es sehr unhöflich, wenn man das nicht so machen würde. Aber hier ­haben wir uns dann über die erstaunten Gesichter ­unserer Gastgeber gewundert – offensichtlich macht man das in der Schweiz nicht», sagt Inge Eriks-Hoogland und lacht. Mittlerweile hat diese Tradition jedoch Anklang gefunden. «Unsere Nachbarn machen es nun genauso.»
Und apropos Begrüssung. Inge Eriks-Hoogland ist ­immer noch ganz beeindruckt, dass sie von ihren neuen Kollegen gleich mit Namen angesprochen wurde. «Die Schweizer sind echte Profis im Namenmerken!»

Privat und beruflich angekommen

Die SwiSCI-Studie, wegen der sie 2006 in die Schweiz kam, läuft weiterhin. Inge Eriks-Hoogland ist nun im Ambulatorium am Paraplegiker-Zentrum Nottwil ­an­ge­stellt, arbeitet jedoch weiterhin eng mit der Forschung zusammen. Das Wissen aus der SwiSCI-Studie ist auch für die Klinik sehr relevant. «Meine klinische Arbeit liebe ich. Neben der Betreuung von Erwachsenen bin ich zuständig für die Transition. Kinder und Jugendliche mit Querschnittlähmung ins Erwachsenenalter zu begleiten ist eine sehr schöne Aufgabe.»
Wenn sie sich bezüglich ihres Berufs etwas wünschen dürfte, dann wäre es, dass die physikalische Medizin in der Schweiz deutlicher sichtbar wird. «In Holland gibt es 16 Lehrstühle für Physikalische Medizin und Rehabilitation, und die Rehabilitation ist viel mehr in den klinischen Alltag eingebunden.» Das fände sie auch in der Schweiz wünschenswert. Denn das würde schlussendlich den betroffenen Menschen helfen, sich besser in den Alltag und die Arbeitswelt einzugliedern. Momentan ist dies ein besonders aktuelles Thema. Denn Personen, die von Covid-19 betroffen waren, entwickeln manchmal ein PICS (Post Intensive Care Syndrome) und brauchen ein ganzheitliches Konzept, um wieder in dem Alltag zurückkehren zu können. «Genau das ist die Kernkompetenz der Physikalischen Medizin und Rehabilitation.»

Zurück nach Holland – eine Option?

«Nein», sagt Inge Eriks-Hoogland. «Wir leben sehr gerne hier. Und wir haben mittlerweile drei Kinder, die hier zur Schule gehen und denen es hier genauso gut gefällt. Wir alle lieben die Berge und segeln gerne auf den Schweizer Seen.» Das Einzige, was ihr manchmal fehle, sei die Familie, der Wind und das Meer. Dann wisse sie, dass es mal wieder Zeit ist, für einen Besuch in die Heimat zu fahren.

Neuer Klinikalltag seit Covid-19

Die Covid-19-Pandemie hat auch den Alltag im Schweizer Paraplegiker-Zentrum verändert. Denn Menschen mit einer Tetra­ple­gie, die über eine eingeschränkte Atemfunktion verfügen, gehören zur Covid-19-Risikogruppe und müssen besonders geschützt werden. «Wir haben deshalb schnell reagiert und ein Notfallkonzept mit 100 zusätzlichen Betten für Covid-19 Patienten erstellt, bis zu 40 davon mit Beatmungsgerät», sagt Inge Eriks-Hoogland. Der klinische Alltag sei je nach Vorgabe schnell adaptiert worden, damit die Akutversorgung und Rehabilitation für die Patienten weitergeführt werden konnten. «Aktuell wird der ‘Normalbetrieb’ langsam wieder aufgenommen. Covid-19 wird aber unseren Alltag noch lange beeinflussen, bis wir alle verschobenen Termine nachgeholt haben, aber auch das kriegen wir hin.»
tanja.kuehnle[at]emh.ch