Revolutionäre Gedanken, die weiterer Ausführungen harren

Briefe / Mitteilungen
Édition
2020/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18771
Bull Med Suisses. 2020;101(12):419

Publié le 17.03.2020

Revolutionäre Gedanken, die weiterer Ausführungen harren

Thomas Schweizer vermittelt in seinem Artikel «Eine neue Biophilosophie – ein neues Menschenbild?» eine ganze Reihe von spannenden, ja sogar revolutionären Gedanken.
Besonders hervorheben möchte ich folgende Punkte:
1. Organismen (Menschen, aber auch Tiere, Pflanzen und sogar Zellen) scheinen die ­Fähigkeit zu haben, aus einer «Unmenge physikochemischer Möglichkeiten (…) die wenigen Verläufe zu wählen, die ein Überleben garantieren».
2. Die «fortwährende Suchbewegung (eines jeden [!] Organismus) nach biologisch sinnvollen Möglichkeiten, (…) bedingt, dass er Entscheidungen fällt, was wiederum prä­reflexive Subjektivität», also einfache Formen von Emotionen (z.B. Zuneigung oder Abneigung), voraussetzt. Mit dem Fällen von Entscheidungen offenbaren Organismen ausserdem eine mentale Dimension.
3. Die mentalen und subjektiven Seiten der Organismen lassen sich nicht von aussen her erforschen, sie lassen sich nicht in einem Bild festhalten, sondern es ist nötig, dazu in einen Beziehungsprozess mit den Organismen zu treten.
Um sich mit diesen spannenden Thesen anzufreunden oder gar mit mit ihnen zu arbeiten, wünschte man sich dazu weitergehende Ausführungen. Wie genau ist das Auswählen von erfolgreichen Lebensverläufen durch einfache Organismen – Zellen etwa – zu konzeptualisieren? Was soll man unter «präreflexiver Subjektivität» verstehen? Wie soll man sich das Mentale ohne die menschliche Sprache vorstellen? Es besteht noch viel Erklärungs­bedarf.
Ausserdem: Was die Medizinier – an diese richtet sich ein jeder SAEZ-Artikel – v. a. inte­ressieren muss, sind die praktischen Konsequenzen einer neuen Biophilosophie; es geht um die Auswirkungen auf die medizinische Forschung, auf die Ausbildung und Lehre sowie ganz besonders auch auf die tägliche medizinische Praxis. Dazu äussert sich der Autor nicht – noch nicht, so möchte ich hoffen.