Das Christkindl

Horizonte
Édition
2019/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18397
Bull Med Suisses. 2019;100(49):1686

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 03.12.2019

Wenn es nach Glühwein und geschmolzenem Käse riecht, sich unzählige Menschen in engen Gassen an Holzbuden vorbeidrängen, dort immer die gleichen ­Sachen bestaunen, Kitsch aus Billiglohnländern, Flitter und Fressalien begaffen, dann ist Weihnachtsmarkt, ­genauer Christkindlmarkt. Ein Konzern, der wochenlang die öffentlichen Plätze aller grossen Städte blockiert, muss sehr einflussreich sein. Der lokale Tourismus macht Werbung, zahllose Verkehrsmittel, Extrazüge und Busse locken mit Pauschalen von weit her die Leute herbei. Auch wenn es kalt ist und nur Pappbecher die Hände wärmen, auch wenn Viren von einer roten Nase zur nächsten hüpfen, kein Aufwand ist zu gross, hundert Mal Gesehenes noch einmal mit einem Selfie aufzunehmen. Natürlich gibt es kleine Unterschiede. Die einen Holzdächer sind mit Winterlandschaften geschmückt, dort dreht sich ein Riesenrad, Drehorgeln verströmen ihre Weihnachtslieder, Heizstrahler blasen heisse Luft ins Gesicht oder Kunstschnee in den Nachthim­mel. Eine Riesensache, ein globaler Konzern. Wem gehört er eigentlich? Dem Christkindl, klar, aber wer soll das sein? Haben Sie es schon einmal gesehen, dieses Christkindl? In deutschen Landen soll es Luther erfun­den haben, weil ihm der Sankt Nikolaus zu katholi­sch war. Eine hübsche Firmengeschichte von langjähriger Tradition und Volksverbundenheit. Inzwischen hat das Imperium alle ­Konfessionen erobert. Die Geschäftszentrale hält sich bedeckt. Das oberste Kader tritt selten an die Öffentlichkeit, Paparazzi haben kaum Gelegenheit, das Geheimnis für ihre Promimagazine zu lüften. Die zarte ­Figur betonen lockere Gewänder. Weiblich oder männlich, vielleicht Trans? Beinahe durchscheinend, körperlos sitzt die geheimnisvolle Person an einem Laptop oder an einem Konferenztisch, wo sie mit einem silberhellen Glöckchen die Teilnehmer hereinbittet. Da gibt es unbestätigte Insiderinformationen von Whistleblowern, die mit dem Geschäftsgang nicht zufrieden sind. Meist wünschen sie sich mehr Publizität, den Gang an die Börse, weniger Geheimnistuerei, dafür Medienarbeit, tägliche Twittermeldungen oder mehr Lohn. Sie unterschlagen gerne, dass es immerhin ein Christkindl-Postamt mit einer offiziellen Adresse gibt. Man kann dort auch Postsendungen aufgeben oder Weihnachtsmarken kaufen. Tausende Kinderbriefe mit Weihnachtswünschen werden jährlich beantwortet. Klar, das Christkindl hat niemand am Schalter angetroffen. Für diese Arbeit gibt es Personal, Freiwillige, die tagelang stempeln, Päckchen sortieren und Briefe öffnen. Der oberste Chef oder die oberste Chefin, das bleibt wohl für immer unklar, hält es wie der Kalif von Bagdad, der inkognito seine Untertanen besuchte. Einmal hat ihn ein böser Zauberer dabei erwischt und in einen Storch verwandelt. Dieses Ereignis, obwohl es ein gutes Ende fand, ist auch dem Christkindl eine Warnung. Besser bei Hausbesuchen unsichtbar bleiben. Geheimnisvoll bimmeln und schnell die Pakete ablegen. Keiner hat es gesehen, nur die Fakten sprechen für sich. Kein Gepolter, wie beim Nikolaus, der hat es gerne derb und laut. Doch sie sind keine Konkurrenten, dafür sind sie schon zu lange im Geschäft. Das Christkindl verschwindet so geheimnisvoll, wie es gekommen ist. Es eilt. Ein neuer Markt ist geplant. Noch mehr Buden, noch mehr vom Gleichen. Das Gute muss wachsen. Man darf die Kunden nicht enttäuschen. Frische Container aus Übersee müssen sortiert und verteilt werden. Beladene ­Lastwagen und Baufirmen verstopfen die Strassen. Taschendiebe machen sich auf den Weg. Kinder gehen verloren. Schon wieder stinkt es nach Glühwein und heissem Käse, nach gerösteten Zuckermandeln und Pfannkuchen. Grund genug, um sich wieder die Füsse abzufrieren. Ach Christkindl, vielleicht ist es besser für Dich, wenn wir Dich nie zu sehen bekommen.
Lebkuchenherzen am Nürnberger Christkindlesmarkt 
(Symbolbild, © Björn Birkhahn | Dreamstime.com).
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