Engagement für eine zeitgemässe Medizin statt eine Tariffront

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18285
Bull Med Suisses. 2019;100(43):1417

Publié le 23.10.2019

Engagement für eine zeitgemässe Medizin statt eine Tariffront

Die Missstände im Bereich der Vergütung ambulanter ärztlicher Leistungen über den TARMED sind unbestritten. Die Frage, ob bestehende Verzerrungen in der Tarifierung mit einem TARDOC gelöst werden, ist jedoch offen. Dessen Prüfung auf handwerkliche Güte obliegt dem BAG. Allen Spekulationen zu den Gründen der Uneinigkeit der unterschiedlichen Akteure zum Trotz wird hier sachlich geprüft werden können. Einzelnen, immer den anderen, Tarifpartnern für die aktuellen Blockaden im Tarifbereich die Verantwortung zuzuschreiben wäre jedoch kurz gegriffen. Vielmehr sollte sich die FMH grundsätzlich fragen bzw. hinterfragen, welche Medizin mit einem neuen Tarifmodell in Zukunft gefördert werden soll.
In einer Logik TARDOC kann weiterhin mit Unnötigem und mit Leistungen an «nicht allzu kranke Patienten» Geld verdient werden; ohne eine durchsetzbare Kontrolle dessen, was zweckmässig, Patienten-gerecht und damit auch effizient wäre. Notwendig wäre ein System, in dem gut ausgebildete Ärzte primär fürs Mitdenken und für den Dialog mit dem Patienten bezahlt werden, auch wenn man im individuellen Patientenfall zum Schluss kommt, nichts zu machen. So kann auch honoriert werden, wenn bewusst eine zurückhaltende Behandlungsstrategie (Hausmittel, «wait and see» bis hin zu palliativer Begleitung) gewählt wird.
Eine Grundlage hierzu wäre eine medizi­nische Bedarfsabschätzung, die eine medizinische sowie eine betriebswirtschaftliche ­Bewertung des Notwendigen und eine Pauschalierung von Leistungen erlaubt. Diese Art der Pauschalierung wird letztlich der Summe der behandelten Patienten gerechter, weil die richtigen Anreize für eine zweckmässige Medizin gesetzt werden. Eine darauf aufbauende Tarifierung und Finanzierung der ärztlichen Leistungen wird auch für den einzelnen Arzt fairer. Das Arzt-Patient-Verhältnis und die Therapiefreiheit stünden weiterhin an erster Stelle bzw. können mit einfachen Regularien untermauert werden. Die Kostenträger sollten den Ärzten nicht über die Schulter schauen müssen, sondern vertrauen können.
Mit dem Blick auf die Gesamtheit bzw. das Zusammenspiel der ambulanten und stationären Leistungen kann die oben genannte Bedarfsabschätzung die Zuordnung von mehr finanziellen Ressourcen – genau dort, wo Mehrbedarf entsteht – objektiv begründen. Zum Beispiel für den ambulanten Bereich der Grundversorgung aufgrund der Demographie oder rein regulatorisch durch die Prämisse «ambulant vor stationär» (AvoS). Nur weil in den letzten Jahren hier immer mehr Kosten das System belastet hatten, erklärt das in einem System der Einzelleistungen nach TARMED oder TARDOC gerade nicht, dass auch mehr notwendig war. Dass der Bund bei den heutigen, ungeklärten Kostensteigerungen korrigierend eingreift, ist verständlich. Daran würde sich unter TARDOC wenig ändern.
Neben den Fragen zur Tarifstruktur stehen weitere Fragen zur Finanzierungsbeteiligung der Kantone (EFAS) an. Erschwerend kommt ein Wildwuchs an (Tele-, Apotheken-, Kom­plementär-, Wellness-, Migros-)Gesundheitsdienstleistungen dazu, die teils ohne Re­­gulierung mit der ärztlichen Leistung konkurrieren. Es fehlt an Marktregeln gemäss dem Motto «same business, same risks, same rules» mit Blick auf die Gesamtheit der Gesund­heitsdienstleistungen in der Schweiz. In Kombination mit dem falschen Tarif- und ­Finanzierungssystem produzieren wir sonst eine Mehrklassenmedizin, ungleiche oder schlechte Qualität.
Der Autor ist Geschäftsführer der SwissDRG AG, welche die Tarifstrukturen für stationäre Leistungen (eingeführt in der Akutsomatik und Psychiatrie, in Erarbeitung für die Rehabilitation) verantwortet. In dieser Funktion arbeitet er mit den Tarifpartnern und Kantonen auch an Anwendungsmodalitäten und Abrechnungsregeln, die ambulante Leistungen einbeziehen. Er ist Mitglied der FMH.