Verwirrungen und Klärungen um den TARDOC – eine Auslegeordnung

Tribüne
Édition
2019/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18268
Bull Med Suisses. 2019;100(44):1470-1472

Affiliations
a Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich; b,c Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich

Publié le 29.10.2019

Die Einreichung der neuen ambulanten Tarifstruktur TARDOC zur Genehmigung hat eine heftige Kontroverse zu den Ge­neh­migungs­voraussetzungen ausgelöst. Im Zentrum des Streites stehen der TARMED und das Verhalten der santésuisse. Dabei wird übersehen, dass der Rahmenvertrag TARMED eigentlich schon längstens dahin­gefallen ist.
Anfang September ist an dieser Stelle ein Beitrag zu den Schwierigkeiten bei der Einführung des TARDOC und zum Verhalten des Krankenkassenverbandes santésuisse erschienen, der für einigen Aufruhr gesorgt hat [1]. So sahen sich sowohl die santésuisse [2] als auch die FMH [3] zu Stellungnahmen gezwungen. Dabei zeigt sich, dass die Haltung und Ansichten der in­vol­vierten Parteien zur Einführung des TARDOC selbst bei scheinbar objektiv feststellbaren Gegebenheiten weit auseinanderliegen. Der folgende Beitrag hat zum Ziel, einige der diskutierten Punkte rund um das Thema Tarifstruktur aufzugreifen und diese rechtlich einzuordnen. Dadurch soll ein Beitrag zur Versachlichung der laufenden Debatte geleistet werden, der aber – so viel bereits vorweg – mitnichten zu ihrer Verein­fachung beiträgt.

Bestehen zwei unterschiedliche TARDOC-Tarifstrukturen?

In ihrer Stellungnahme behauptet santésuisse, dass zwei unterschiedliche Tarifstrukturen mit unterschiedlichen finanziellen Auswirkungen zur Festsetzung eingereicht worden seien. Die FMH hält hierzu fest, dass diese Darstellung nicht den Tatsachen entspreche. Bei einer Tarifstruktur handelt es sich nach geläufiger Definition um das Resultat der Anwendung eines Tarifmodells (das betriebswirtschaftliche Denkmodell und die daraus abgeleiteten Berechnungsalgorithmen [4]), das in der Bewertung einzelner medizinischer Leistungen mit einem abstrakten, in Taxpunkten ausgedrückten Wert, resultiert. Die Struktur als solche entsteht durch den Vergleich des Taxpunktwertes der verschiedenen in der Tarifstruktur abgebildeten Leistungen. Wie bereits in verschiedenen Artikeln und ­offiziellen Verlautbarungen festgehalten, konnten sich die FMH, curafutura und die MTK auf eine solche ­Tarifstruktur einigen. Eine Konsultation des bereits abrufbaren Tarifbrowsers TARDOC [5] bestätigt diese Aussage.
Es ist der santésuisse also zu widersprechen, wenn sie auf das Bestehen zweier unterschiedlicher Tarifstrukturen hinweist. Allerdings ist ihre Position zumindest im Ansatz insofern nachvollziehbar, als die tatsäch­liche Höhe der einzelnen Taxpunkte pro medizinische Leistung noch nicht restlos geklärt ist. Der Grund dafür liegt in den unterschiedlichen Ansichten der FMH und curafutura zur Frage, wie bei der Einführung des TARDOC die Kostenneutralität gewahrt werden soll. Während die FMH diese über eine während 21 Monaten auszutarierende Höhe der kantonalen Taxpunktwerte sowie allfällige Korrekturen bei der Tarifstruktur garantieren will, bevorzugt ­curafutura eine Kürzung der Taxpunkte pro Leistung nach einem linearen Faktor. Die Struktur im Sinne des Wertverhältnisses der Leistungen untereinander wäre aber nach wie vor dieselbe. Sollte sich der ­Bundesrat bei der Festsetzung auf die Seite der curafutura schlagen, läge bezüglich der Höhe der einzelnen Taxpunktwerte also tatsächlich eine vom heute ein­gereichten Vorschlag abweichende, zweite Tarifstruktur vor.

Muss der Rahmenvertrag TARMED bei Einführung des TARDOC gekündigt werden?

Die santésuisse rechtfertigt ihre Blockadehaltung bei der Erarbeitung des TARDOC unter anderem damit, dass der Rahmenvertrag TARMED mit Genehmigung oder Festsetzung des TARDOC aufzukündigen wäre. In ihrer Stellungnahme [2] behauptet sie sogar, dass dies eine Voraussetzung zur Festsetzung des TARDOC sei. Auch diese Rechtsauffassung ist unseres Erachtens aus den folgenden Gründen nicht haltbar.
Bei genauerer Betrachtung ist der Rahmenvertrag TARMED bereits mit der ersten Revision der Einzelleistungstarifstruktur durch den Bundesrat [6], welche am 1. Oktober 2014 in Kraft gesetzt wurde, wirkungslos geworden. Mit dem bundesrätlichen Tarifeingriff wurde seinerzeit die langandauernde Blockade einer einvernehmlichen, vertraglichen Tarifrevision gebrochen. Im Streit stand damals der finanzielle Ausgleich zwischen den Grundversorgern und den Spezialisten, dies im Umfang einer Verschiebung von Leistungen von CHF 200 Mio. [7]. Damit wurde die Tarifstruktur, wie im Rahmenvertrag TARMED (und den späteren Revisionen) ab dem Jahre 2002 mehrfach einvernehmlich vereinbart, in einem wesentlichen Punkt verändert. Zur Tatsache, dass bereits der erste hoheitliche Tarifeingriff ein Tarifstrukturwerk hinterliess, das in vertragswesentlichen Punkten nicht mehr nach übereinstimmenden Willensäusserungen, sondern nach behördlicher Festsetzung funktionierte, kommt hinzu, dass die einst vertraglich vereinbarte Tarifstruktur aus zwei Dokumenten bestand, die als Einheit zu betrachten sind: Aus dem Rahmenvertrag TARMED einerseits und dem Anhang 1 dieses Rahmenvertrages andererseits, weshalb es auch nie einen rechtlich selbständigen Vertrag «Rahmenvertrag TARMED» und einen ebenso selbständigen Vertrag «Anhang 1 Tarifstruktur» gab, sondern stets eine einzige tarifstrukturvertragliche Vereinbarung, die als Gesamtvertrag genehmigt bzw. festgesetzt wurde. So hält der TARMED-Rahmenvertrag zwischen den Versicherern und FMH selbst fest, dass die zwischen den beiden Parteien vereinbarte Tarifstruktur gemäss Anhang 1 als für den Rahmenvertrag wesentlich anzusehen ist (Art. 1 Abs. 3 Ziff. 1). Zudem hält der ­Rahmenvertrag in III. 2. fest, dass alle Anpassungen der Tarifstruktur der vertraglichen Einigung bedürfen. Es ist diese Wesentlichkeit, die zur Folge hat, dass bei ­einer bundesrätlichen Revision der gesamte Rahmenvertrag dahinfällt. Dies gilt für den ersten und umso mehr für den zweiten, noch weitergehenden bundesrätlichen Eingriff, der auf den 1. Januar 2018 in Kraft trat.
Dies auch deshalb, weil es schweizweit nach allgemein herrschender Auffassung (die unseres Erachtens bei genauerer Betrachtung aber nicht zwingend ist [8]) nur einen einzigen Einzelleistungstarif geben kann. Wie der Luzerner Rechtsprofessor Bernhard Rütsche in einem Gutachten zuhanden der curafutura dargelegt hat, schreibt Art. 43 Abs. 5 Satz 1 KVG ein ­Einheitlichkeitserfordernis vor, weshalb für die in der Einzelleistungstarifstruktur definierten Leistungen schweizweit nur eine Tarifstruktur bestehen darf und die Genehmigung eines Tarifvertrags durch den Bundesrat Ausschlusswirkung hat [9]. Die Genehmigung einer zweiten, parallelen Einzelleistungstarifstruktur ist ausgeschlossen (Rz. 48 und 55 des Gutachtens). Man könnte nun argumentieren, dass sich dieser Ausschluss einzig auf die Tarifstruktur und nicht die übrigen tarifvertraglichen Bestimmungen beziehe. Wie oben dargelegt, sind beide aber als Einheit zu betrachten. Darüber hinaus würde es wenig Sinn machen, eine schweizweit einheitliche Tarifstruktur zu fordern, zuglei­ch aber eine unterschiedliche Anwendung in zusätzlichen Rahmentarifverträgen auf Bundesebene zuzu­lassen.
Das hat unseres Erachtens zur Konsequenz, dass mit der bundesrätlichen Revision wie auch der späteren Festsetzung des Einzelleistungstarifs nicht nur der Anhang 1 des Rahmenvertrags TARMED, sondern konsequenterweise der Rahmenvertrag TARMED als Ganzes dahingefallen ist. Dies gilt auch deswegen, weil der ­Gesetzgeber in Art. 43 Abs. 4 KVG entweder von einer tarifvertraglichen Regelung oder von einer hoheit­lichen Festsetzung der Tarifstruktur ausgeht und nicht von beidem gleichzeitig. Aus rechtlicher Perspektive – die Bewertung anderer und uns auch nicht bekannter Beweggründe massen wir uns hier nicht an – er­übrigt sich somit die Kündigung des (nach dem Ver­trags­willen bereits wirkungslosen) Rahmenvertrags TARMED.
Mit Blick auf die vorhergehenden Ausführungen erübrigt sich damit im Grunde genommen auch die Frage, ob die Kündigung des Rahmenvertrags TARMED Voraussetzung der Festsetzung des TARDOC ist. Da die bisherige tarifvertragliche Regelung hinfällig geworden ist, kann eine Kündigung auch nicht Voraussetzung der Festsetzung des TARDOC sein. Aber auch unabhängig davon, ob man sich unserer Rechtsauffassung anschliessen möchte oder nicht, ist die Argumentation der santésuisse wenig überzeugend. Soweit uns bekannt ist, wurde der TARDOC beim Bundesrat zur Festsetzung eingereicht und nicht zur Genehmigung. Im Grunde genommen hat dies zur Konsequenz, dass der Anhang 2 der Verordnung des Bundesrates durch die Einzelleistungstarifstruktur gemäss TARDOC ersetzt würde und somit rechtlich als derselbe Vorgang zu qualifizieren wäre, wie die bundesrätliche Festsetzung auf Anfang des Jahres 2018. Wenn die santésuisse davon ausgeht, dass bei der Festsetzung des TARDOC der Rahmenvertrag TARMED zu kündigen wäre, hätte man dies bereits bei der Festsetzung auf den 1. Januar 2018 tun müssen bzw. wäre die Kündigung bereits damals Voraussetzung der Festsetzung gewesen.

Wie ist das Verhalten der santésuisse zu beurteilen?

Die Einigung auf eine Einzelleistungstarifstruktur zwischen FMH und dem Krankenkassenverband cura­futura, der immerhin die Kassenschwergewichte CSS, Helsana, kpt und sanitas vertritt, ist völlig unabhängig vom weiteren Verlauf des Festsetzungsverfahrens ein gesundheitspolitischer Erfolg. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie stärkt. Dieses setzt gemäss Botschaft des Bundesrates auf «die Fähigkeit und Bereitschaft der Tarifpartner […], in freiheitlicher und verantwortungsbewusster Tarifgestaltung zur Eindämmung der Kosten in der Krankenversicherung beizutragen». Ob nun das Verhalten der santésuisse als verantwortungslose Abkehr von der Bereitschaft zur Aushandlung von Einzelleistungstarifen zu sehen ist, oder aber gerade eben im Gegenteil dazu als verantwortungsbewusster Beitrag zur Kosteneindämmung, ist für Aussenstehende nicht einfach zu beurteilen. Der Entscheid des Bundesrates darüber, ob er den TARDOC als neuen Einzelleistungstarif festsetzt, wird vor diesem Hintergrund nicht als rein hoheitlicher Akt zu betrachten sein, sondern zugleich auch als ein Urteil über das Verhalten der Tarifpartner als Ganzes.
Dr. iur. Gregori Werder
Rechtsanwalt
Poledna RC AG
Limmatquai 58
CH-8001 Zürich
Tel. 043 233 40 33
werder[at]poledna.legal
4 Andreas Bührer, Tarif und Tarifanpassung in der Krankenver­sicherung. Ein methodischer Blick auf den ambulanten Bereich, in: Kieser/Oggier/Bührer (Hrsg.), Tarif und Tarifanpassung in der Krankenversicherung, S. 149.
6 Verordnung über die Festlegung und die Anpassung von Tarifstrukturen in der Krankenversicherung vom 20. Juni 2014 (SR 832.102.5).
8 Dieser Schluss erscheint uns nicht zwingend. Man kann Art. 43 Abs. 5 KVG durchaus auch so verstehen, dass es mehrere Tarifstrukturen geben kann, die jede für sich einheitlich gesamtschweizerisch zur Anwendung gelangen muss. Mit anderen Worten stellt sich die Frage, ob aus dem Begriff «einheitlich» zwingend geschlossen werden muss, dass es nur eine einzige Tarifstruktur gibt, oder ob nicht eher der Schluss naheliegt, dass jede von mehreren Tarifstrukturen einheitlich für das Gebiet der Schweiz anzuwenden ist. Für die letztere Ansicht spricht, dass die Tarifstruktur in einer engen Wechselbeziehung zum wettbewerblich unterlegten Tarifvertragssystem steht und der hoheitliche Tarifstruktureingriff die Ausnahme bilden sollte. Erlaubt man zwei konkurrierende Tarifstruktursysteme, so stärkt man die Vertragsautonomie und das wettbewerbliche Element. Wäre der Rahmenvertrag TARMED im Jahre 2014 aufgrund des Eingriffs des Bundesrates nicht ohnehin dahingefallen, könnte der TARDOC als konkurrierender Einzelleistungstarif neben dem TARMED bestehen. Somit wäre auch in dieser Konstellation die Kündigung des Letztgenannten nicht nötig.