Genomik– Herausforderungen im ärztlichen Alltag

Tribüne
Édition
2019/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18262
Bull Med Suisses. 2019;100(47):1583-1585

Affiliations
Prof. em. Dr. med., Facharzt für Medizinische Genetik

Publié le 19.11.2019

Weite Kreise der schweizerischen Ärzteschaft tun sich mit der Wahrnehmung der personalisierten Medizin schwer [1], die individuell massgeschneidert präventive und therapeutische Massnahmen anbieten möchte. Die Genomik leistet einen entscheidenden Beitrag zu deren Realisierung.
Unter dem Begriff der Genomik versteht man die Untersuchung der Struktur sowie der Funktionen und Wechselwirkungen der Elemente des Erbgutes. Die ­Diskussion über den möglichen Nutzen der Genomik und der damit verbundenen Risiken basiert weitgehend noch auf Vorstellungen, wie sie für die Klärung des Verdachts gelten, ob eine umschriebene Chromosomenstörung oder monogene Erbkrankheit vorliegen könnte. Dabei geht es immer mehr um die Diagnostik der komplexen multifaktoriell verursachten «Volkskrankheiten» (koronare Herzkrankheit, schizophrene Störungen, Alzheimer-Demenz) und um das Entdecken von nicht erwarteten DNA-Sequenz-Varianten, die Krankheitsprädispositionen darstellen könnten. Bei der anstehenden Revision des «Bundesgesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen» (GUMG) muss der Anwendung der Genomik im ärzt­lichen Alltag Rechnung getragen werden.

Genomische Medizin

Es ist eine Vision der genomischen Medizin, das Sequenzieren des gesamten Genoms bei jedem Patienten routinemässig anzuwenden. Damit würden die Genomik und die genetische Beratung zu einem Thema für die gesamte Ärzteschaft. Dieses Ziel wird noch lange nicht erreicht sein.
Die häufigen Volkskrankheiten resultieren aus einem komplexen Wechselspiel von Genen mit ihrer individuellen Variabilität untereinander, zudem mit dem Lebensstil und mit Umwelteinflüssen, wie sie im Verlaufe des Lebens auf uns einwirken, sowie dabei resultierenden epigenetischen Modifikationen. Davon verstehen wir heute noch recht wenig. Krankheitsursachen dürften bei vielen Patienten auch in Zukunft ungeklärt bleiben.
Verschiedene medizinisch-genetische, ethische, recht­liche, soziale und ökonomische Probleme können ­wegen der Genomik resultieren wie: wegen fehlender/unklarer Indikation: Überscreening, wegen unge­eignetem Testverfahren: irreführende Resultate, Fehl­interpretationen, unerwünschte genetische Informa­tionen, unnötige Behandlungen, falsche Gewissheit über eine ­individuelle Situation, Verlust der Privatsphäre und ­unnötige Verängstigung von Blutverwandten (siehe ­unten).

Klinisches Sequenzieren

Das clinical sequencing liefert vielfältige genetische Informationen. Der Genpaneltest (multigene panel testing = PT), das Sequenzieren des gesamten Exoms (whole exome sequencing = WES) oder des gesamten Genoms (whole genome sequencing = WGS) führen zu einer beachtlichen Verbesserung der diagnostischen Sensitivität [2, 3] und damit zu einem Erkenntniszuwachs über die Verursachung von Krankheiten und die Gestaltung effektiverer Pharmakotherapien. Mit dem PT werden mehrere Gene gleichzeitig analysiert; man spricht ­daher von einem «Multigentest». Das WES erfasst die Analyse aller kodierenden Sequenzen, also der Exons aller Gene, des sogenannten Exoms. Das mensch­liche Genom enthält etwa 180 000 Exons; das Exom macht jedoch nur gut 1% des Gesamtgenoms aus. Die bisherige Analytik konzentrierte sich auf diesen Bereich, da sich Mutationen für den Hauptanteil der monogenen Erbkrankheiten dort finden liessen. Beim WGS geht es um die Erfassung der vollständigen DNA-Sequenz des Genoms, also der Nukleotidfolge der gesamten DNA des Zellkerns und der Mitochondrien. Mutationen auch der nicht zum Exom gehörenden Abschnitte des Erbguts können – mindestens teilweise – die Gesundheit beeinträchtigen.
Die technologischen Entwicklungen im Bereich der genetischen Analytik sind rasant, die neuen Ansätze sehr vielversprechend. Die genetischen Untersuchungen werden zudem immer kostengünstiger. Sie dienen nicht nur zur Analyse des Genoms der Keimbahn; man nutzt sie auch zur Abklärung von entarteten Zellen und ergänzt damit die histologische Krebsdiagnostik. Bei der Untersuchung von Krebszellen werden auch vererbbare Mutationen entdeckt, die schon ab Zeugung vorliegen und Krankheitsveranlagungen darstellen. Solche sind nicht nur für die untersuchte Person, sondern auch für deren Angehörige von Relevanz.

Herausforderungen für das Laborteam und die Ärzteschaft

Der Nachweis von DNA-Sequenz-Daten für klinische Zwecke beinhaltet Fragen im Hinblick auf deren Zuverlässigkeit sowie deren Interpretation und Mitteilung an die untersuchten Personen respektive an Blutsverwandte. Es werden mehr relevante Befunde im Hinblick auf die ursprüngliche Indikationsstellung, aber auch bedeutungsvolle Zufallsbefunde (actionable genes) erhoben, die man nicht erwartete, sowie auch ­solche detektiert, deren klinische Relevanz noch un­bekannt ist (VUS = variants of unknown clinical significance), aber eingeschätzt werden muss [4].
Es besteht ein breites Angebot an genetischen Test- und Analyseverfahren für PT, WES und WGS [5]. Nicht alle haben die gleiche Zuverlässigkeit und Aussagekraft [6–8]. WES und WGS sind mit grossen Heraus­forderungen an die Datenspeicherung und -analyse, an statistische Auswertungsverfahren und Daten­interpretation verbunden. Der Ärzteschaft sind eine diesbezügliche Übersicht und Beurteilung kaum möglich. Es gibt zudem noch keine Datensammlung/-bank, die ein zuverlässiges Kompendium für die mögliche klinische Relevanz aller Sequenzvarianten darstellt. Vom Labor sollte zweifelsohne eine Interpretation des Befundes angeboten werden, wobei jedoch mit Vorsicht vorzugehen ist. Die Mitteilung «No mutation detected» kann z.B. leicht missverstanden werden, als sei keine Krankheitsveranlagung vorhanden.

Indikationen für genetische Tests

Diagnostische und prognostische Tests: zur verlässlichen Diagnostik und Klassifizierung von (Erb-)Krankheiten sowie Vorhersage ihres Verlaufs.
Präsymptomatische/prädikative Tests: zum Nachweis/Ausschluss einer möglichen Veranlagung bei gesunden Menschen.
Pharmakogenetische Tests: zur Wahl und Dosierung von Medikamenten unter Berücksichtigung der Veranlagung des Patienten.
Vorgeburtliche (pränatale) Tests: zur Abklärung von genetischen Eigenschaften beim Embryo/Fetus oder von Polkörperchen.
Der mögliche Nutzen sowie Nachteil des Erhebens von Zufallsbefunden (Incidental Finfings = IFs) lassen sich oft zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht abschliessend beurteilen. Eine einmal festgestellte DNA-Variante kann zu einem späteren Zeitpunkt eine andere Bedeutung gewinnen. Das grösste Problem im Hinblick auf die Mitteilung von IFs an die Probanden ist der Mangel an Zeit und Expertise der die Untersuchung veranlassenden Ärzteschaft. Probleme entstehen gerne dann, wenn ein IF eine andere medizinische Disziplin betrifft (z.B. Onkologie statt Kardiologie). In den Krankengeschichten sind die einschlägigen Untersuchungsberichte langfristig aufzubewahren.
Interdisziplinarität und Interprofessionalität sind bei der Komplexität der im Rahmen der Präzisionsmedizin erhobenen Befunde unumgänglich, denn eine einzelne Fachperson, ob Arzt oder Naturwissenschaftler, hat nicht mehr die zu deren Beurteilung notwendige Übersicht. Es ist daher wünschenswert, dass sich die für eine bestimmte Krankheit oder Krankheitsgruppe sich in­teressierende Ärzteschaft zusammentut und mit dem Untersuchungslabor einen engen Kontakt unterhält, um die medizinisch-genetischen Kenntnisse und Sichten im Hinblick auf die beste Betreuung der Ratsuchenden/Patienten zu koordinieren. Analog zu den bereits gut etablierten Tumor-Boards sollte es mindestens an grösseren medizinischen Zentren regelmässig stattfindende «Genetik-Boards» geben. Solche Veranstaltungen tragen zur ärztlichen Weiter- und Fortbildung bei.
Wegen genomics / «genomischer Medizin» nimmt die Nachfrage nach genetischer Beratung zu. Aus ver­schiedenen Gründen ist eine solche, die eigentlich jede genetische Untersuchung begleiten sollte, oft heute schon ungenügend. Gentests werden z.T. blind den Angeboten von kommerziellen Testanbietern folgend veranlasst, ohne die untersuchten Personen über ­deren Tragweite zu informieren. Das oft zeitintensive Beratungsgespräch wird von Krankenkassen ungenügend mitfinanziert. Zudem fehlt es in der Schweiz an entsprechend ausgebildeten Fachleuten (Fachärztin­nen/-ärzte für Medizinische Genetik).

Zu einer Zukunft mit Genomik: ­Fragen, die gelöst werden müssen

Das Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) fordert in Art. 18, dass die ­betroffene Person nach hinreichender Aufklärung ­eigenständig entscheidet, ob sie eine genetische Untersuchung wünscht oder nicht, ob sie die daraus her­vorgehenden Resultate erfahren möchte respektive welche Konsequenzen sie allenfalls aus dem Untersuchungsergebnis ziehen will. Ein umfassender informed consent wird im Zeitalter von genomics immer schwieriger. Einerseits genügt schon der aktuelle Wissensstand oft nicht, um Laien eine klare Entscheidungshilfe zu schaffen, andererseits fehlen diesen die notwendigen Grundkenntnisse, um die Beratungs­inhalte vollumfänglich zu verstehen.
Während die Meinung besteht, dass Sequenzvarianten, für die kein offensichtlicher klinischer Nutzen bekannt ist, nicht kommuniziert werden sollten, fordern andere, dass alle Befunde mitgeteilt werden müssen. Das Recht «not to know» kann leicht dann zu einem «right to ignorance» werden, wenn das Nichtwissen über IFs zu gesundheitlichem Schaden an sich selbst oder anderen führt, weil wirkungsvolle Vorbeuge- und Therapiemassnahmen versäumt werden. Wie steht es generell um die zu schützende Privatsphäre? Kinder und Jugendliche sollten grundsätzlich nur dann genetisch getestet werden, wenn das Ergebnis für ihre ­eigene medizinische Betreuung von Relevanz ist. Wie ist mit Zufallsbefunden umzugehen, die bei Kindern festgestellt werden, die für die Eltern oder weitere Blutsverwandte von Bedeutung sein könnten? Welche Konsequenzen dürfen welche IFs im Rahmen von Pränataltests nach sich ziehen?
Rechtliche Fragen stellen sich im Hinblick auf die gesetzliche Haftung im Zusammenhang mit der Qualitätssicherung der genetischen Diagnostik und der daraus abgeleiteten Informationen. Wer überprüft die Aussagekraft und Zuverlässigkeit der kommerziell angebotenen Testverfahren und stellt deren geeignete Auswahl durch das Untersuchungslabor sicher? Wie steht es um die Haftpflicht bei der Übermittlung der Interpretation eines Befundes, die sich zu einem späteren Zeitpunkt als falsch herausstellt? Kann ein Untersuchungslabor dafür verantwortlich gemacht werden, dass es die wissenschaftliche Literatur nicht regelmäs­sig im Hinblick auf die klinische Interpretation von DNA-Varianten überprüft und verpasst, dass eine festgestellte VUS mittlerweile in gewissen Datenbanken als pathologisch interpretiert wird? Hat ein Labor die Verpflichtung, die einmal festgestellten Varianten lebenslang zu evaluieren und die untersuchten Personen allenfalls über eine Reklassifizierung zu informieren?
Verschiedene ökonomische Fragen sind noch nicht gelöst. Wer muss für die Kosten aufkommen, falls weitere molekulargenetische Abklärungen auch bei Familienangehörigen oder andere diagnostische Möglichkeiten indiziert sind, um die klinische Bedeutung einer DNA-Sequenz-Variante zu ergründen, gerade auch dann, wenn eine solche vorerst in Körperzellen (Tumor­zellen) festgestellt wurde? Ein Überscreening kann zu unnötigen Folge­unter­suchungen oder unnötigen Behandlungen führen. Wer bezahlt dafür?

Ausblick

Die herkömmliche gute Arzt-Patient-Beziehung darf zweifelsohne unter der Etablierung der Genomik nicht leiden. Der Arzt kann im persönlichen Kontakt mit ­seinen Patienten Dinge über deren gesundheitliche ­Situation wahrnehmen, die nicht leicht artikulier- und quantifizierbar sind und sich mit genetischen ­Labortests nicht erfassen lassen. Neben medizinisch-genetischen Kenntnissen sind von ihm Kommunika­tionsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und psycho­soziale ­Fähigkeiten gefragt, damit eine genetische Beratung wissenschaftlich korrekt und so ausführlich wie nötig, aber auch so verständlich und einfühlsam wie möglich angeboten wird, die einer ratsuchenden Person die individuelle Entscheidung über das weitere Vorgehen erleichtert.

Das Wichtigste in Kürze

• Aus verschiedenen Gründen ist eine genetische Beratung, die eigentlich jede genetische Untersuchung begleiten sollte, oft heute schon ungenügend.
• Es ist eine Vision der genomischen Medizin, das Sequenzieren des gesamten Genoms bei jedem Patienten routinemässig anzuwenden. Damit würden die Genomik und die genetische Beratung zu einem Thema für die gesamte Ärzteschaft.
• Mit der stetigen Weiterentwicklung im Bereich der Genomik stellen sich auch neue rechtliche, ökonomische und ethische Fragen, die beantwortet werden müssen und gesetz­liche Anpassungen nötig machen.

L’essentiel en bref

• De nos jours déjà, pour différentes raisons, la consultation génétique qui devrait accompagner tout examen génétique est souvent insuffisante.
• L’utilisation systématique du séquençage de l’ensemble du génome pour chaque patient est une approche de la médecine génomique. La génomique et la consultation génétique deviendraient donc bien des objets de réflexion pour l’ensemble du corps médical.
• L’évolution permanente dans le secteur de la génomique génère de nouvelles questions juridiques, économiques et éthiques, auxquelles il faut trouver des réponses, et qui rendent nécessaires des évolutions législatives.
Medizinische Genetik USB
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1 Bearth A, et al. Personalisierte Medizin: Umfrageresultate 2018. Schweiz Ärzteztg. 2019;100:1256–9 (vgl. Heft 38 vom 18.9.2019).
2 Wright CF, et al. Pediatric genomics: diagnosing rare disease in children. Nat Rev Genet. 2018;19:263–8.
3 Metzker ML. Sequencing technologies – the next generaton. Nat Rev Genet. 2010;11:31–46.
4 Richards S, et al. Standards and guidelines for the interpretation of sequence variants. Genetics in Medicine. 2015;17:405–24.
5 Bolz HJ, Hoischen A. NGS: Gestern, heute und morgen. medgen. 2019;31:185–90.
6 Khoury MJ, et al. A collaborative translational research framework for evaluation and implementing the appropriate use of human genome sequencing to improve health. PLoS Med. 2018;15(8):
e1002631. https://doi.org/10.1371/jounal.pmed.1002631
7 Meienberg J, et al. New insights into the performance of human whole-exome capture platorms. Nucleic Acids Res. 2015;43(11):e76. doi: 10.1093/nar/gkv21.
8 Caspar SM, et al. Clinical sequencing: From row data to diagnosis with lifetime value. Clin Genet. 2018;93:508–19.