Erster Hilfseinsatz als frisch diplomierte Ärztin

Einblick in die Inselmedizin

Horizonte
Édition
2019/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18257
Bull Med Suisses. 2019;100(48):1636-1639

Affiliations
Dr. med.

Publié le 26.11.2019

Kurz nach Abschluss meines Staatsexamens reise ich nach Honiara, um die dortige Inselmedizin kennenzulernen, und merke vor allem, dass viel Geduld und Kreativität gefragt ist!

1. Oktober 2018: Ankunft

Nach der langen Reise komme ich in Honiara an. Es ist früher Nachmittag und bereits sehr warm. Ich werde von Jared und Stanley am Flughafen abgeholt. Sie sind Angestellte des Unternehmens Robert Goh, welches eng mit der orthopädischen Klinik in Honiara zu­sammenarbeitet und deshalb auch regelmässig mit Dr. Hermann Oberli Kontakt hat. Sie bringen mich zum ­Jubilee House, wo ich die nächsten Wochen wohnen werde. Entlang der Strasse vom Flugplatz zum Zentrum von Honiara stehen reihenweise Stände, die Kokosnüsse verkaufen, eine wohltuende Erfrischung in der tropischen Wärme. Ich werde in allen Departementen vorgestellt, alle sind superfreundlich! Später treffe ich Amandine, sie ist Ärztin in Weiterbildung zur Tropenmedizinerin und wird während 6 Monaten in Auki auf der Insel Malaita arbeiten. Es tut gut, sich abends über all die neuen Eindrücke austauschen zu können!
Der National Referral Hospital-Komplex in Honiara (© Hermann Oberli).

2. Oktober 2018: Erster Tag auf der ­Notfallstation

Auf der Notfallstation arbeiten heute Nick, ein britischer Arzt, der für 6 Monate in Honiara ist, und Gaine, ein Oberarzt aus den Salomonen. Der Notfall ist in mehrere Bereiche aufgeteilt. Die Triage, die pädiatrische Notfallstation mit 7 Betten, wobei jedoch in der Regel jedes Bett mit mindestens 2 Patienten besetzt ist, und der Fast-Track-Bereich für leichte Verletzungen, nicht lebensbedrohliche Erkrankungen und Nach­kontrollen. Gegenüber davon befindet sich der Resuscitation-Bereich mit 3 Patientenbetten, die jeweils an ­einen Monitor angeschlossen sind, sowie das Minor Operating Theater für Kleineingriffe, der Examination Room und die Liegen und Stühle, die im Korridor Platz haben. Anschliessend an diesen Bereich liegt die Acute Bay, ein grosser Raum, in dem 12 Betten stehen und eine lange Holzbank. Dort liegen Patienten, die zur Überwachung bleiben müssen oder hospitalisiert werden, aber noch kein freies Bett auf Station haben. Ich arbeite am ersten Tag mit Nick und Gaine zusammen, bin aber eher Mitläuferin und Beobachterin. Doch ich merke rasch, man ist hier sofort mitten im Geschehen. Für eine Einführung und ein ruhiges Angewöhnen bleibt keine Zeit. Patienten kommen zu Fuss, mit der Ambulanz oder werden von Bekannten mit dem Auto gebracht. Eine junge Frau, die mit der Ambulanz vor die Tür des Notfalls gefahren wird, hat soeben im ­Ambulanzfahrzeug ein kleines Mädchen ­geboren. Ich staune, doch für die Krankenschwestern scheint dies überhaupt nicht aussergewöhnlich zu sein. Wir bringen die junge Frau und ihr Neugeborenes in das Minor Operating Theater. Die Krankenschwester entbindet geübt die Plazenta. Der Mutter wie auch dem kleinen Mädchen geht es gut.

3. Oktober 2018: Der erste Eindruck

Heute komme ich zur Übergabe um 8 Uhr. Es ist ruhig auf dem Notfall, es regnet in Strömen, anscheinend hält das die Leute davon ab, auf den Notfall zu kommen. Unsere Hauptbeschäftigung an diesem Tag ist, passendes Papier für das EKG-Gerät zu finden, damit wir bei einer Frau mit Thoraxschmerzen ein EKG machen können. Man muss das benötigte Material häufig selber suchen. Materialbestellungen werden nicht sehr regelmässig durchgeführt, und die Lieferungen brauchen lange, bis sie die Salomonen erreichen. Ich finde Papierrollen, die nicht ­direkt ins vorhandene EKG-Gerät passen, doch wenn man sie auf eine kleinere Rolle aufwickelt, passen sie ins Gerät, und wir können ein 12-Kanal-EKG drucken. Es braucht Flexibilität und ­Kreativität im Spitalalltag in Honiara! Am Nachmittag kommt ein kleiner Junge mit beidseitigen dislozierten Unterarmfrakturen nach einem Sturz vom Beetle-Nut-Baum. Etwas später kommt ein junger Mann mit einer epigastrischen Stichwunde. Diese hat er sich bei einer Auseinandersetzung vor ein paar Tagen zugezogen. Der Verband ist völlig vertrocknet, kaum zu lösen. Darunter quillt eine riesige Masse Schleimhaut hervor. Der junge Mann wird in den Operationssaal gebracht. Im Verlauf des Tages kommen immer mehr Patienten, nochmals mehrere Frauen mit Unterarmfrakturen nach Stürzen von Mangobäumen. Es beginnt gerade die Erntezeit der Mangos. In den nächsten Wochen werden noch viele Patienten mit Folgen von Stürzen aus grosser Höhe auf den Notfall kommen. Bei einem jungen Knaben mit hohem Fieber und immobilisierenden Rückenschmerzen vermuten die lokalen Ärzte als Erstes eine Knochentuberkulose. Ich habe von vielen infek­tiösen Krankheiten, welche die Menschen hier präsentieren, noch nie gehört und schon gar nicht deren Ausprägung gesehen.
Die Acute Bay beherbergt Patienten, die zur Überwachung bleiben müssen oder hospitalisiert werden, aber noch kein freies Bett auf Station haben (© Annatina Fiona Suter).

5. Oktober 2018: Die erste Woche

Obwohl ich erst seit 3 Tagen in Honiara bin, fühle ich mich bereits sehr wohl und integriert. Ich arbeite heute mit einer Assistenzärztin, die bereits einige Jahre Erfahrung hat. Ich kann viel von ihr lernen! Wir teilen uns die Patienten auf, ich mache selbständig Anamnese und klinische Untersuchung und bespreche nachher mit einem der anderen Ärzte das weitere Vorgehen. Wir sehen viele Patienten mit Frak­turen, teilweise nach Arbeitsunfällen, teilweise aber auch wegen gewalttätiger Auseinandersetzungen. Sehr viele Patienten haben einen Diabetes mellitus und kommen wegen eines infizierten Fussulkus. Die Leute laufen in der Regel barfuss, die Strassen sind schmutzig, und die Infektionsgefahr ist riesig. Man sieht nicht selten auch junge Männer und Frauen, die bereits am Fuss oder gar am Knie amputiert sind.

6. Oktober 2018: Ein Ausflug an den Strand

Auf der Notfallstation habe ich Cathy kennengelernt. Sie ist Pflegefachfrau auf einer Notfallstation in Melbourne und macht einen Freiwilligeneinsatz in Ho­niara. Sie befasst sich hauptsächlich mit der Weiter­bildung des lokalen Pflegepersonals. Sie ist bereits seit knapp einem Jahr da und kennt sich in der Stadt gut aus. Sie zeigt mir, wo ich welche Produkte einkaufen kann und wo man sich am besten im klimatisierten Café eine Pause gönnt. Am Wochenende wollen wir zusammen an den Strand zum Schnorcheln. Boneghi ist weltbekannt; nur wenige Meter vom Ufer sind mehrere Kriegsschiffe gesunken, welche nun eindrücklich von Korallen überwuchert sind. Bereits auf der Fahrt zum Strand sind wir erschrocken über die vielen Stellen, an denen Tropenholz gerodet wird. Am Strand dann die grosse Enttäuschung: Wegen des ganzen Sägestaubs ist das Wasser stark getrübt, wir sehen nichts von den Korallen und kaum Fische!

9. Oktober 2018: Die zweite Woche

Ich habe mich langsam an den Betrieb auf der Notfallstation gewöhnt. Immer wieder werden komatöse Pa­tienten gebracht. Bei Verdacht auf einen Schlag­anfall ist die Unterscheidung zwischen hämorrhagischem und ischämischem Schlaganfall nur klinisch zu ­eruieren. Das nächstgelegene CT befindet sich auf Fiji, etwa drei Flugstunden von Honiara. – Nachdem wir das EKG-Gerät mit Papier versorgt hatten, sind darauf bei sämtlichen Patienten EKGs durchgeführt worden, mit dem Resultat, dass mittlerweile die Elektrodenkleber ausgegangen sind. ­Wieder müssen wir vorübergehend ohne EKG auskommen. Für meine lokalen Arbeitskollegen ist dies völlig normal. Wir sehen täglich Patienten mit Traumafolgen, meist Vorderarmfrakturen nach Stürzen, häufig auch Schädelfrakturen nach Schlägereien. Nicht selten sind die offenen Frakturen bereits superinfiziert, da der Weg ins NRH für viele weit ist. Der Hauptanteil der ­Bevölkerung lebt in den abgelegenen Provinzen und nicht in der Hauptstadt. Viele müssen erst mit einem kleinen Kanu zur nächsten grösseren Insel reisen, um dort auf ein grosses Boot nach Ho­niara umzusteigen. Das kann mehrere Tage bis Wochen dauern!

12. Oktober 2018: Immer wieder Fieber

Tagtäglich präsentieren sich Patienten mit hohem Fieber, viele davon auch mit Krampfanfällen. Da die fiebrigen Infekte meist durch Dengue bedingt sind, gibt es keine kausale Therapie. Der Rat der lokalen Inselmediziner ist, sich bei Dengue auszuruhen und viel Kokosnusswasser zu trinken. Auch Malaria kommt sehr ­häufig vor. Nicht selten kennen die Patienten die Symptome sehr genau, da sie bereits mehrmals Malaria hatten.

15. Oktober 2018: Der normale ­Hochbetrieb

Heute hat sich ein Mann vorgestellt, dessen Beine mit riesigen Blasen übersät sind. Diese sind teilweise prall gefüllt und teilweise bereits aufgeplatzt. Auf dem Boden unter seinem Stuhl hat sich eine richtige Pfütze ­gebildet. Die Blasen sind am ehesten durch die starken Ödeme bedingt. Zusätzlich ist der Patient tachykard und hypoton. Die einzige verfügbare blutdrucksteigernde Medikation auf dem Notfall ist Adrenalin, ­welches erst seit kurzem wieder erhältlich ist. Am Nachmittag stellt sich eine junge Frau mit vaginalen Blutungen vor. Sonographisch stellt sich neben einer intrauterinen Schwangerschaft auch der Verdacht ­einer ektopen Schwangerschaft im rechten Ovar. Dass so etwas möglich ist, habe ich nicht gewusst! Zudem gibt es kaum Zugang zu Verhütungsmitteln. Den Frauen wird, sofern sie ihre Kinder im Spital gebären, nach dem 4. oder 5. Kind eine Tubenligatur empfohlen. Die Frau braucht dafür aber die Einwilligung ihres Ehemanns – das kann man sich als junge Frau in der westlichen Welt kaum vorstellen!

18. Oktober 2018: Kreativität bewährt sich erneut!

Heute kommt ein Säugling mit einer Bronchiolitis. Nick zeigt mir, wie man aus einer mit Wasser gefüllten PET-Flasche ein sogenanntes Bubble CPAP bastelt. Der Höhepunkt des Tages: Wir finden alte Brustwandableitungen mit Saugnäpfen und können diese mit einer kleinen Schraube ans 12-Kanal-EKG anschliessen. Wir haben nun wieder ein funktionierendes EKG und brauchen keine Elektrodenkleber mehr!

20. Oktober 2018: Ein Wochenende auf Malaita

Cathy und ich haben übers Wochenende einen Ausflug zur Langa Langa Lagoon auf der Insel Malaita gemacht. Die Bewohner der Langa Langa Lagoon wurden bereits vor vielen Jahren nach einem Streit von ihrem Land vertrieben. Sie haben daraufhin ihre Inseln selbst aufgebaut, aus Blöcken abgestorbener Korallen, welche sie bei Ebbe aus dem Wasser holen und stapeln. In der entstandenen Hydrokultur bauen sie nun Gemüse und Früchte an. Die Vorstellung, dass sämtliches Land, wor­auf die Leute ihre Häuser und Dörfer gebaut haben, von ihnen selbst aufgeschüttet wurde, ist sehr eindrücklich! Ich geniesse die Ruhe während des Wochenendes, zudem kann man in der Langa Langa Lagoon wunderbar schnorcheln!

22. Oktober 2018: Gewalt und Parasiten

Heute kommt ein malaysischer Mitarbeiter einer Logging-Firma in Begleitung seiner Arbeitskollegen auf den Notfall. Er hat eine tiefe Schnittwunde am rechten Oberarm und eine ebenso tiefe Schnittwunde über dem Ellbogen am linken Unterarm. Es sei ein Arbeitsunfall gewesen, jedoch ist beim Anblick der Verletzungen schnell klar, dass es sich dabei um Abwehrverletzungen handelt und der Mann offensichtlich mit einer Machete angegriffen wurde und mit erhobenen Armen versucht hat, sein Gesicht zu schützen. Ein zweiter ­junger Mann wird wegen blutigen Erbrechens auf die Notfallstation gebracht. Er wirkt blass und ist hypoton. Sonographisch hat er eine riesige Zyste in der Leber. Wahrscheinlich ist diese durch Parasiten verursacht, und als Folge der portalen Hypertonie haben sich Ösophagusvarizen gebildet, welche nun bluten. Gastroskopien gibt es nur zweimal die Woche, sofern die Gastroentero­logen verfügbar sind. Vorerst bleibt uns nur übrig, dem Patienten ausreichend Volumen zu geben. Falls wir Blutkonserven verabreichen wollen, müssen erst die Angehörigen des Patienten beim Labor vorbei, um Blut zu spenden.

26. Oktober 2018: Meine letzte Woche auf dem Notfall

Vor ein paar Tagen wurde ein junges Mädchen mit einer aufsteigenden schlaffen Lähmung auf die Notfallstation gebracht. Sie konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen und auch kaum noch sprechen. In Papua-Neuguinea soll über Polio-Fälle berichtet worden sein.
Das führt natürlich zu grosser Aufregung in der Klinik. Es gibt vor Ort keine Diagnostik, um Polio auszuschlies­sen. Stuhlproben müssen nach Melbourne geschickt werden. Heute ist erneut ein kleiner Junge mit auf­steigenden Lähmungen ins Spital gebracht worden, auch er kann kaum noch ausreichend selbst atmen. Der ­Patient kann vorübergehend manuell mit einem Ambu-Beutel beatmet werden, doch eine Intensiv­station gibt es nicht. Die zuständigen Oberärzte entscheiden dann, den Jungen wie auch das Mädchen, das ­mittlerweile auch nicht mehr suffizient atmen kann, mittels der zwei Beatmungsgeräte aus dem Operations­trakt zu beatmen. Somit bleibt nur noch ein einziges Beatmungsgerät, welches während der Operationen verwendet werden kann. Die Patienten werden beide auf die normale Station verlegt. Das ist ein grosser Raum mit etwa 40 Betten. Bis anhin wurde noch nie ein Patient auf Station beatmet, entsprechend kennt sich auch niemand mit der Pflege solcher Patienten aus. Mich beeindruckt die Entscheidung der lokalen Ärzte, sie spiegelt für mich den Willen, aus jeder ­Situation das Bestmögliche mit den entsprechenden Mitteln zu machen, auch wenn diese hier sehr beschränkt sind.
Segeln ist nicht weniger ereignisreich als die Zeit auf dem Notfall (© Annatina Fiona Suter).

5. November 2018: Nach der Arbeit das Abenteuer

Ich verbringe noch eine Woche auf der Geburtenstation des NRH. Dort kommen im Durchschnitt täglich 28 Kinder zur Welt. Die meisten Geburten werden von den Pflegeschülerinnen geleitet. Es ist jedoch immer entweder eine ausgebildete Pflegefachfrau oder eine Hebamme vor Ort. Ich werde von allen Seiten fleissig instruiert und darf auch viel selbst Hand anlegen. –Nach dieser letzten Woche im NRH geht mein Abenteuer weiter. Ich fliege nach Munda und bin für zwei Wochen mit einem Segelboot in der Western Province unterwegs. Diese Zeit ist nicht weniger ereignisreich als die Zeit auf dem Notfall! Die Landschaft ist absolut spektakulär, glasklares Wasser über gesunden Korallenriffen und Fische in allen Grössen und Farben. Selbst Haifische und Schildkröten begegnen uns beim Tauchen regelmässig. Wir haben sogar das Glück, unter Wasser auf einen Dugong – eine Seekuh – zu treffen! Ich verlasse die Salomonen nach zwei Monaten voller Eindrücke, die ich nicht so schnell vergessen werde. Ich bin dankbar für die vielen lehrreichen Momente und wunderbaren Erlebnisse, die ich hatte. Besonders an die Freundlichkeit der Menschen und die zahlreichen strahlenden Gesichter werde ich mich noch lange erinnern. Falls ich in Zukunft nochmals die Möglichkeit habe, zurück auf die Salomonen zu reisen, werde ich auf jeden Fall nicht zögern, dies zu tun!

Haben auch Sie Interesse an einem Einsatz im Südpazifik?

Ärzte/Studenten können sich gern auf der Seite vom Verein ­«Medizin im Südpazifik» auf www.hermannoberli.ch über ­einen möglichen Einsatz informieren.
Dr. med. Annatina ­Fiona ­Suter
annatina.suter[at]bluewin.ch