Premio Pusterla 2019 Junior, 2. Platz

Leben oder nur Überleben

Horizonte
Édition
2019/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18101
Bull Med Suisses. 2019;100(35):

Affiliations
Medizinstudentin im ersten Jahr, Universität Zürich

Publié le 27.08.2019

Eine Bekannte von mir hat sich dazu entschieden, ihr Kind in einem Geburtshaus auf die Welt zu bringen. Ihre Gründe dafür waren wohl, dass sie so entspannter sein würde und die Geburt auch für das Kind angenehmer wäre. Es läuft zunächst alles nach Plan. Das Kind liegt auf der Brust der Mutter und atmet. Doch plötzlich setzt die Atmung aus.
Das Neugeborene wird reanimiert, befindet sich aber auf dem dünnen Grat zwischen Leben und Tod. Die Ärzte geben ihr Bestes, um das noch so junge Leben zu erhalten, und so stabilisiert sich der Zustand des Mädchens auf der Intensivstation. Das MRT zeigt aber starke Schädigungen des Gehirns. Die Kleine würde siche­r Behinderungen davontragen, deren Schwere jedoch noch ungewiss ist. Selbständig atmen kann sie erst nach rund eineinhalb Wochen, und es fehlt ihr der Schluck- bzw. Würgereflex, so dass ihr regelmässig der Speichel abgesaugt werden muss. Sie entwickelt eine Spastik in allen vier Gliedmassen und hat Krämpfe am Oberkörper und Kopf. Zusätzlich wird eine Epilepsie diagnos­tiziert. Sie bewegt zwar ihre Gliedmassen, doch ist unklar, ob diese Bewegungen gezielt oder unwillkürlich sind, wobei letzteres wahrscheinlicher ist. Die Knochen des Kindes sind sehr fragil und brechen schon bei normalen Bewegungen, zum Beispiel beim Wickeln. Ausserdem leidet sie an nächtlicher Atemnot und erbricht häufig.
Überleben. Das Wort bedeutet, dass eine lebensbedrohliche Situation überwunden wurde und das Leben fortgeführt wird. Doch ist das Leben, das die Ärzte der Kleinen erhielten, lebenswert? Soll ein Kind wirklich mit allen Mitteln am Leben gehalten werden? Ist dieses Überleben vereinbar mit Werten wie Menschlichkeit und Gerechtigkeit? Fragen können die Ärzte das Kind nicht. Deshalb muss die Entscheidung aufgrund des Einfühlungsvermögens und der ethischen Über­legungen der Ärzte und Eltern getroffen werden. Mein Bauchgefühl spricht dafür, das Neugeborene zu retten; denn ein so junges Leben enden zu lassen, geht mir einfach gegen den Strich. Trotzdem erkenne ich auch einige Argumente, die gegen diese erste Überlegung sprechen.
Wenn eine Krise der nächsten folgt und ein Überleben dem andern, ist dann noch von Leben zu sprechen? Die Therapie ist unangenehm für das Neugeborene. Das Absaugen des Speichels beispielsweise, die Blutentnahmen und der Stress einer Behandlung auf der Intensivstation, ohne ständigen Kontakt zu den Eltern. Doch nicht nur die Therapie, sondern auch der Alltag birgt zahlreiche unangenehme und schmerzhafte Situationen. Die Knochenbrüche, Krämpfe, nächtliche Atemnot und die Epilepsie sind Beispiele hierfür. All diese Strapazen sind Folgen der lebensrettenden und lebenserhaltenden Behandlungen von damals. Es könnte also argumentiert werden, dass die Behandlung deshalb dem Wert der Menschlichkeit widerspricht.
Wenn man jedoch die Zeit betrachtet, die voller unangenehmer Erlebnisse ist, und diese vergleicht mit der gesamten Lebensdauer, wird klar, dass auch noch viel Zeit bleibt für Freude, schöne Momente und Genesung. Das Mädchen hat eine sie liebende Familie. Es ist gut möglich und wahrscheinlich, dass sie Glück beim Kontakt mit ihren Eltern empfindet. Vielleicht geniesst sie bestimmte Gerüche, Lichter oder Töne, vielleicht ist es das Allerschönste für sie, einfach dem Klang der elterlichen Stimmen zu lauschen? Das Kind kennt kein anderes Leben, also ist auch nicht klar, wie stark sie unter ihrer Situation leidet. Wir sollten ihr Befinden nicht mit unserem Massstab messen. So betrachtet, wäre die Behandlung mit dem Wert der Humanität vereinbar.
Aber wie steht es mit der Gerechtigkeit? Die Behandlung kurz nach der Geburt, der Aufenthalt auf der Intensivstation und die vielen speziellen Medikamente sind sehr teuer und werden von der Krankenkasse, also der Allgemeinheit, bezahlt. Je nachdem, wie schwer die Behinderung des Kindes ist, werden auch im Alltag Betreuungspersonen nötig sein, die ebenfalls von der Krankenkasse bezahlt werden. Die Mutter hatte sich bewusst für die Geburt im Geburtshaus und somit gegen die sicherste medizinische Versorgung entschieden. Es ist fragwürdig, ob es gerecht ist, dass die Allgemeinheit die Kosten dieser Behandlung tragen muss, wo deren Ausmass doch vermutlich durch eine Geburt im Krankenhaus hätte verringert werden können. Andererseits werden viele Kinder in Geburtshäusern ohne Komplikationen geboren, und es gibt auch verständliche Gründe für die Entscheidung der Mutter; eine entspanntere Atmosphäre und persönlichere Betreuung, die sich positiv auf das Wohlbefinden von Mutter und Kind während der Geburt auswirken können. Die Mutter ging also ein Risiko ein, konnte jedoch nicht vorhersehen, dass die Geburt so verlaufen würde. Ausserdem lag die Entscheidung nicht beim Kind, welches die Konsequenzen dieser Entscheidung tragen muss und die teure Behandlung bekommt. Aber auch unabhängig vom Grund für die Behandlung kann man über deren Gerechtigkeit diskutieren.
Diese ethische Frage betrifft die Allgemeinheit. Und es ist zweifelhaft, wie viele Menschen sich tatsächlich für die teure Therapie aussprechen würden, in Kenntnis der hohen Kosten. Trotzdem sollte das Mädchen das Recht auf die bestmögliche Behandlung haben, ungeachtet der Kosten. Nur weil ihre Krankheit eher seltener und komplizierter Art ist, sollte dadurch die Behandlung nicht eingeschränkt werden. Gerechtigkeit hat hier also zwei Gesichter. Zum einen ist es kontrovers, ob die Allgemeinheit für die teure Behandlung bezahlen sollte; zum anderen sollte jeder die Möglichkeit einer bestmöglichen Behandlung bekommen.
Das Abwägen zwischen diesen beiden Argumenten hängt sehr stark mit dem Nutzen der Therapie zusammen. Wenn die Behandlung dem Kind mehr Wohltun als Schaden bringt, sind die Kosten gerechtfertigt. Für eine schadende Behandlung so viel Geld zu bezahlen, finde ich jedoch sehr problematisch. Hier gerate ich jedoch in eine Sackgasse. Es ist unmöglich, in den Kopf des Kindes hineinzuschauen und seine Gedanken und Gefühle zu kennen. Da Personen mit einer derart schweren Behinderung sich dazu nicht äussern können, gibt es in diesem Bereich enorme Wissenslücken, die eine von Fakten fundierte Entscheidung unmöglich machen.
Ein anderer Punkt, den ich bei dieser Frage erwähnen möchte, ist, dass es mit der Zeit immer schwieriger wird, die Therapie abzubrechen. Das Mädchen macht immer wieder kleine Fortschritte, sie muss nicht mehr beatmet werden, und auch das Schlucken funktioniert etwas besser. Diese Fortschritte machen den Eltern und den Ärzten grosse Hoffnung. Ausserdem lernt man das Kind immer besser kennen, und die Bindung wird immer stärker. Je länger die Behandlung also andauert, desto weniger verantwortbar wirkt ein Abbruch der Therapie. Wenn man dies aber kritisch betrachtet, kann auch argumentiert werden, dass die Fortschritte über die Strapazen der Therapie hinwegtäuschen und man alles nur noch durch die grüne Brille der Hoffnung betrachtet.
Ich würde schliesslich doch auf meine anfängliche Bauchentscheidung hören. Ich gebe jedoch zu, dass diese Entscheidung teilweise auch egoistische Gründe hätte. Wenn ich alles an die Genesung der Neugeborenen setzte, könnte ich mir einreden, ich hätte alles versucht, um dem Kind zu helfen. Zum Zeitpunkt der ersten medizinischen Eingriffe war ja auch noch unklar, ob und inwiefern das Kind genesen würde. Später, als die Schwere der Behinderung abzusehen war, hätte ich es einfach nicht mehr übers Herz gebracht, das Kind, um das die Eltern so viel gebangt haben, das sie lieben und das doch schon einige Fortschritte bei der Genesung gemacht hat, sterben zu lassen. Aber vielleicht wäre dies angenehmer für das Mädchen gewesen.
Die Behandlung der Kleinen wurde fortgeführt. Sie ist nun fünf Jahre alt. Sprechen kann sie nicht. Durch Geräusche kann sie sich sehr sparsam äussern. Laut der Mutter lächelt das Mädchen in bestimmten Situationen. Mit den Augen kann es bis heute nichts fixieren. Ein Hörtest hat ergeben, dass sein Gehör intakt ist. Ob es Gesagtes versteht, weiss man nicht. Selbständig fortbewegen kann es sich nicht, und die Eltern werden 24 Stunden am Tag von ein bis zwei Pflegefachpersonen bei der Betreuung des Kindes unterstützt. Ausserdem wird es durch eine PEG-Sonde ernährt, da das Schlucken von Essen immer noch kaum möglich ist. Die häufigen Krampfanfälle sowie die Spastik werden medikamentös behandelt.

hannalou.fischer[at]uzh.ch