Siegertext des Premio Pusterla Senior 2019

Krank ohne Kant: Vom technologischen zum kategorischen Imperativ

Horizonte
Édition
2019/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18096
Bull Med Suisses. 2019;100(35):1174-1175

Affiliations
Assistenzarzt, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

Publié le 27.08.2019

Ich berichte von zwei Begegnungen, die ich als neurochirurgischer Assistenzarzt gemacht habe. Sie zeigten mir, dass ethische Fragen Zeit und Raum brauchen, die im klinischen Alltag oft nicht gegeben sind.
Bei der ersten Begebenheit war ich der diensthabende Neurochirurg im Spital. Ich hatte mein Medizin­studium erst am Vorjahresende abgeschlossen und doch bereits erfahren, dass das kollegiale Gespräch das Bewusstsein der Erhabenheit der gewählten Disziplin täglich neu bestätigte und die Funken der Unsicherheit, die in mir doch immer wieder aufschlugen, zuverlässig auslöschte.
Die Neurologen hatten eine Konsilanfrage gestellt: «Pat. St.n. Geschlechtsumwandlung inkl. Gesichtschirurgie vor 4 Jahren. Aktuell hospitalisiert bei starkem Kopfschmerz, in der cCT Schraube intrakraniell. Frage Interventionsbedarf?» Ich war doch immerhin beeindruckt von der Originalität der Anfrage. Der Blick in die elektronische Patientenakte weckte meine Neugierde weiter: Frau Martin Schreiber*, 34 Jahre alt, ­Status nach Geschlechtsanpassung, bekannte Migräne, normwertige Laborparameter. Ich öffnete das kraniale CT: «... inklusive Gesichtschirurgie ...» Die Schrauben müssten also frontal sein. Das waren sie auch: Die Schrauben durchliefen die Sinus frontales axial, eine links, eine rechts. Die linke endete in der Hinterwand des Sinus. Die rechte Schraube ragte dagegen um zwei Millimeter weiter nach intrakranial. Kann diese Schraube nach vier Jahren Kopfschmerzen verursachen?
Ich stieg zwei Stockwerke hinunter und ging gleich in das Patientenzimmer auf der neurologischen Station. Der Tag war wolkenverhangen, wie so oft in dieser Stadt. Die Vorhänge in diesem Zimmer jedoch waren auch mitten am Tag vollständig verschlossen. Das erste, das der Tür nahe Bett, war unbelegt. Die Hygiene versprechende Plastikfolie spannte sich über die Bettwäsche. Am Fussende des hinteren Bettes stand eine Frau. Offensichtlich nervös hielt sie die Handinnenflächen wie zum Gebet vorm Mund aneinandergelegt, die Spitzen der Zeige- und Mittelfinger berührten die ­Lippen kaum. Die Frau drehte sich zur Tür, nahm mich wahr und wandte sich wieder ab. Sie schien meine ­Anwesenheit weder sonderlich zu begrüssen noch zu bedauern. Ich schloss die Tür und gab meinen Augen einen Moment Zeit, dass sie sich an die Dunkelheit gewöhnten.
Die Frau war hochgewachsen. Die auffallend langen Absätze ihrer Schuhe zwangen mir den Eindruck zusätzlich auf. Ein enges knielanges Kleid vollzog vorteilhaft die darunterliegenden Rundungen nach. Sie sah nicht aus wie eine Frau, die oft betete. Ich näherte mich langsam und respektierte ihre aktuellen Schmerzen und mögliche Geräuschempfindlichkeit. Sie würdigte meine nun nähere Anwesenheit, indem sie sich erneut zuwandte und mich anschaute. Ihre Augen waren ­umrahmt von hohen, sauber nachgezogenen Brauen und ebenso hohen Wangenknochen, die dezent geschminkt waren. Diese wiederum waren gerahmt von offen getragenem langem feuerrotem Haar, in der Mitte gescheitelt. Ich spürte die mir schon bekannte leichte Unbehaglichkeit aufsteigen, die mich gelegentlich im intimen Zusammensein mit bewusst weib­lichen jungen Patientinnen erfasste. Und ich erlebte ­unser Zusammensein in der dunklen Stille als intim. Die Dame liess vom selbstbewussten jungen Neurochirurgen nicht viel bestehen. Ich sagte mir erinnernd, dass mir eine Frau nach Geschlechtsanpassung gegenüberstand.
«Guten Tag, Frau Schreiber.» – «Ich bin nicht Frau Schreiber, Manue liegt hier im Bett.» Die Frau, die nicht Martin Schreiber war, deutete auf das Bett, an dessen Fussende sie stand. Und tatsächlich: Die Konturen ­eines offensichtlich sehr schlanken Körpers zeichneten sich dezent durch die Bettdecke hindurch ab. Die Decke schien sich nach kranial in ein weisses Handtuch fortzusetzen. Es bedeckte vollständig den Kopf des ­darunterliegenden Körpers. Ich stellte mich vor. Die Neurologen hätten uns um unsere neurochirurgische Einschätzung gebeten.
Meine anfänglichen inneren Widerstände gegen das anonymisierende entlastende «Wir» der Ärzteschaft waren schon Monate zuvor weggeschwommen. Die Last der ärztlichen Verantwortung wiegt offensichtlich zu schwer, als dass sie nach aussen hin auf nur zwei Schultern getragen werden könnte.
Martin oder «Manue» Schreibers Gesicht war ebenso markant-feminin wie das der Frau an ihrem Fussende. Die Haut war allseits makellos. Das weisse Handtuch lag schnell wieder zwischen Frau Schreibers und meinem Gesicht. Ich wandte mich an die andere Frau. Diese stellte sich kurz darauf als Fabienne Grieler* vor. Sie berichtete, dass ihre Lebensgefährtin Frau Schreiber im Rahmen ihrer Geschlechtsanpassung «FFS» habe durchführen lassen. Die Ergebnisse der Operation in den USA hätten die beiden Frauen jederzeit gänzlich überzeugt. Die etwas ins Hirn reichende Schraube könne ja kaum die Kopfschmerzen verursachen. Manue habe ja bekanntermassen Migräne, wenn auch die aktuelle Attacke besonders schlimm sei. Ich murmelte etwas Zustimmendes.
Zwei sich liebende Frauen, jetzt in der dunklen Stille, eine der beiden kopfschmerzgeplagt? Ich ging zurück auf meine Station. Dort zückte ich mein Smartphone: FFS – facialfeminizationsurgery – wandelt typisch männliche Gesichtsmerkmale in weibliche um. Eine partielle Abtragung der männlichen neandertaloid betonten Überaugenwulste und der Glabella gehört dazu. Schrauben fixieren die dann ausgedünnten Vorderwände der Stirnhöhlen an deren Hinterwände. Eine solche Schraube wurde also bei Frau Schreiber zwei Millimeter zu tief geschraubt. Die Schraube wird bei fehlenden Infektzeichen wohl kaum vier Jahre später akute stärkste Kopfschmerzen verursachen. Das Konsil war beendet.
Zwei Monate vergingen. Ich war erneut der dienst­habende Neurochirurg. Die internistische Intensiv­station rief mich mitten in der Nacht an. Sie hätten da eine Patientin bei sich. Der Vorname sei Martin. Die Patientin sei heute mit einer Sinusvenenthrombose gekommen und habe jetzt weite und lichtstarre Pupillen. Die Kombination aus der Anrede «Frau» und ­einem männlichen Vornamen war mir bislang nur ­einmal untergekommen. Ich erinnerte mich sofort an die Frau unter dem Handtuch, die biologisch einmal ein Mann gewesen war.
Transnasale Magensonde und Beatmungstubus entmenschlichten Frau Schreibers wertvoll erschaffenes weibliches Antlitz. Ihre Pupillen waren weite Seen.Ich schaute mir die fünf Stunden alte kraniale CT aus dem Notfallzentrum an. Die Thrombose war hier gut zu sehen, ohne Stauungsblutung. Wir fuhren direkt ins CT. Ich kannte diese internistische Intensivstation. Meine Aufgabe sah ich daher vornehmlich in der beständigen Mahnung zu Schnelligkeit. Dies war ein sicherer Weg zu genervten Blicken der langjährigen pflegerischen und auch ärztlichen Belegschaft. Nebenbei rief ich Fabienne Grieler ins Spital. Meine ­Befürchtung bestätigte sich im CT: Eine massive supratentorielle Stauungsblutung forderte ihren Raum. Ich deckte Manue Schreibers Kopf samt femininem Gesicht steril ab, rasierte ihre langen Haare rund um den Kocherschen Punkt, drillte ein Loch und schob den Drainageschlauch in Richtung rechter Seiten­ventrikel. Die Drainage blieb leer. Ich schob die Drainage mehrfach vor und zurück. Ich scheiterte wiederholt im Versuch des Treffens des schlitzförmigen rechten Vorderhorns. Meine Erleichterung beim Eintreffen des diensthabenden Oberarztes war entsprechend gross. Er schaute aufs CT, auf Manue Schreibers rasierten Kopf, schob die Drainage vor und liess den Liquor heraussprudeln.
Wir sassen im Besprechungsraum der Intensivstation: Fabienne Grieler, mein Oberarzt, der Intensivmediziner und ich. Das Ausmass der intrazerebralen Blutung war fatal. Frau Schreibers Pupillen waren schon zu lange keine Kreise mehr. Frau Schreiber war tot und das sagten wir Frau Grieler. «Wir», das war ich gar nicht. Das war mein Oberarzt. Ich sass daneben. Frau Grieler nahm die Nachricht des Todes ihres teuersten Menschen gefasst auf. Frau Grieler hatte gewusst, dass es so enden könnte: Manue habe sich immer mehr ­Östrogen gespritzt. Sie habe die vollkommene Frau sein wollen, so schnell es ging. Die Thrombosegefahr sei ihr bewusst gewesen.
Mittlerweile sind zwei Jahre vergangen. Hätte ich Frau Schreiber retten können? Hätte ich mir nicht etwas mehr Mühe geben können? Hätte ich nicht wenigstens laienhaft etwas tiefer inspizieren können? Dort, wo die rechte Schraubenspitze war, und noch tiefer? Hätte ich nicht meine Scham überwinden und die gewollten weitreichenden medizinischen Konsequenzen dieser radikalen Geschlechtsanpassung offen hinterfragen müssen?
All das habe ich nicht getan. Wut hat sich mit der Zeit in meine Selbstreflexion gemischt: Wie kann ein medizinisches System diesen fatalen Verlauf zulassen? Wie kann eine junge Frau in ihrer Geschlechtsanpassung an immer mehr Östrogen gelangen? Brauchen wir Ärzte nicht eine viel engere ethische Beratung und Kontrolle? Sind wir nicht zu leicht verleitet, unsere Schaffenskraft durch unreflektiertes Befolgen des Imperativs der Technologie zu beweisen: «Du solltest, weil du es kannst!» Etwas mehr Kant, auch im Verzicht, würde uns und unseren Patienten nicht schaden: «Du kannst, weil du es solltest!»
Peter.Selhausen[at]upk.ch