Ressourcenorientierte Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt

Weitere Organisationen und Institutionen
Édition
2019/26
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17942
Bull Med Suisses. 2019;100(26):886-888

Affiliations
a Präsident Compasso, Mitglied der Geschäftsleitung Schweizerischer Arbeitgeberverband; b PD Dr. med., AEH Zentrum für Arbeitsmedizin, Ergonomie und Hygiene AG, Zürich; c Compasso Fachentwicklung Projektleiterin REP, KLC AG, Zürich; d Dipl. Ing. ETH, Pensionskassenberatung, RPS Pension Services GmbH, Uetikon am See; e Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie

Publié le 25.06.2019

Oft kennt die ärztliche Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nur die Farben Schwarz und Weiss, alles oder nichts. So beträgt in 80% der Arztzeugnisse die Arbeitsunfähigkeit entweder 0% oder 100%. Hauptgrund dafür sind mangelnde Kenntnisse der Ärzte über die genauen Anforderungen und Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz ihres Patienten. Um eine schrittweise, erfolgreiche Reintegration zu ermöglichen, sind Grautöne wichtig. Das ressourcenorientierte Eingliederungsprofil (REP) ermöglicht eine ärztliche Beurteilung der Ressourcen von Patienten, die längere Zeit nicht vollständig arbeitsfähig sind und über einen Arbeitsplatz verfügen.

Prozessgestaltung aus Sicht ­eines ­Betroffenen

Joggen geht, ich renne wieder. Gais war hart, der Vorfall mit sofortigem Eingriff im Spital sowieso. Zwar konnten sie mich mittels Katheter und Stent mechanisch wiederherstellen. «Ein Schuss vor den Bug» sei das gewesen, meinten Arbeitskollegen floskelhaft an meinem ersten Arbeitstag nach meinem Herzinfarkt. Ein wenig die Richtung ändern und dann in ruhigeren Gewässern wieder Vollgas geben, meinten sie wohl.

Résumé

Le profil d’intégration professionnelle axé sur les ressources (PIR) permet une évaluation médicale des ressources des patients qui pendant une période longue n’ont plus une capacité de travail complète, mais sont en poste. Au cours d’un entretien, le patient et son supérieur hiérarchique remplissent un questionnaire en ligne, organisé de façon modulaire et fournissant des informations sur les conditions du poste de travail et les exigences auxquelles doit répondre la personne en poste. Ce document est imprimé et signé par les deux parties, comme preuve que chacun consent à l’intégration professionnelle. Avec ce questionnaire rempli, le patient va consulter un médecin qui peut alors fournir son appréciation sur la capacité de travail actuelle au regard des caractéristiques du poste.
Souvent, cette évaluation médicale de la capacité de travail est assez binaire et donne une vision tranchée. 80% des certificats médicaux indiquent en effet une incapacité de travail à 0% ou à 100%. La raison principale est le manque de connaissance des médecins sur les conditions et exigences exactes du poste de travail de leur patient. Les nuances sont essentielles à une réintégration progressive et réussie.
Combiné au certificat de capacité de travail de la Swiss Insurance Medicine (SIM), le PIR a une véritable valeur ajoutée, car il envisage systématiquement les capacités de travail partielles, avec la mise en œuvre correspondante. L’accent est mis en effet sur les aptitudes et possibilités qui restent au patient, et non sur ce qui ne fonctionne pas.
Allein mir fehlt der Glaube. Wenn an der Schwelle zum 50. Lebensjahr das zentrale Pumporgan versagt, reicht das Verlegen einer Rohrbefestigung nicht aus. Zum ersten Mal werde ich mit meiner Endlichkeit konfrontiert. In der Reha lernte ich viel über die Mechanik meines Körpers, wie wichtig Sport ist, dass ich sofort mit Zigarrenrauchen aufhören muss. An Tag drei hingen wir schon an Kraftmaschinen. Das tat gut. Trotzdem blieben Ängste. Ist dieses leichte Zwicken oben links die Folge eines erneuten Infarkts? Hält so ein Stent überhaupt? Wie geht mein Körper mit der Chemie um, die ich neuerdings täglich einnehme? Ich werde ruhig gestellt mit Blutdrucksenkern, mit einem Betablocker plombiert, in der Spitzenleistung gedrosselt wie ein Auto, das zu schnell unterwegs ist. Hinzu kommen Cholesterinsenker, Aspirin Cardio und dergleichen. Unversehrte körperliche Jungfräulichkeit: das war mal.
Und dann die existenziellen Fragen: Kann ich zurück an meinen Arbeitsplatz, angeschossen, wie ich bin? In der Reha gingen wir an Stöcken: Nordic Walking, dieser Seniorensport, war auch hilfreich am Anfang, aber eben: Das machen doch zu Hause nur Rentner. Bin ich auf dem Weg in eine IV-Rente? Was, wenn mein Arbeitgeber meine Unsicherheit erkennt. Ich bin/war in führender Position bei einem Finanzdienstleister tätig: Competition, Challenges, Survival oft the fittest. Durebiisse! Ich darf jetzt nicht rausfliegen, denn in meinem Alter findest du keinen Job mehr. Angezählt wie ich im Moment bin sowieso nicht.
Also Day One after: Mein Vorgesetzter empfängt mich mit echtem Interesse. Wir haben doch alle Angst, im Kampf unterzugehen. Zuviel Stress, wir sitzen alle im gleichen Boot, meint er. Er will, dass ich wieder einsteige, step by step. Ich habe Gänsehaut wegen seiner Wertschätzung. Die brauchen mich hier. Das hätte ich so nicht erwartet. Er schlägt vor, dass wir zusammen einen Fragebogen ausfüllen, in dem wir gemeinsam festlegen, was es eigentlich braucht, um meinen Job zu erledigen. Ein sogenanntes «ressourcenorientiertes Eingliederungsprofil», das habe ihm die Case Managerin vom HR empfohlen. REP statt RIP. So kann ich mir den sperrigen Namen merken, nachdem ich dem Tod knapp von der Schippe gesprungen bin. Ich wusste gar nicht, was ich so alles draufhaben muss, um meinen Job zu erledigen, und frage mich jetzt, ob ich das alles noch kann. Diese Frage stellt sich natürlich auch mein Chef. Aber es hilft enorm, dass er sich so genau und mit echter Empathie mit meiner neuen Situation auseinandersetzt. Mit dem REP in gedruckter Form gehe ich dann zu meiner Ärztin, die zu jedem Punkt ihre Einschätzung abgibt. Ich beneide sie nicht um diesen Job. Wie soll sie wissen, wie es in mir drin ausschaut? Aber es ist sicher einfacher für sie, wenn sie genau weiss, welche Anforderungen die Berufswelt an mich stellt. Da hilft das Formular mit dem sperrigen Namen, das jetzt vor ihr liegt. Das Glas sei doch halb voll, meint sie am Ende unserer Besprechung. Mindestens, denke ich an guten Tagen, und gönne mir abends ein Bier. Fast schon wie früher, einfach ohne die Zigarre.
Das ärztlich ausgefüllte REP geht dann wieder an den Arbeitgeber. Der weiss jetzt besser, was geht und was nicht. Der Rest ist «Try and Error». Im Moment ist «Try» angesagt, ich arbeite an vier Vormittagen und gehe wieder regelmässig joggen, beides noch mit halber Kraft. «Error» folgt an Tagen, an denen ich zu viel um die Ohren habe und an meiner Leistungsfähigkeit zweifle. Dann bin ich froh um meinen verständnisvollen Chef und meine Ärztin, die sich die Mühe nimmt, meine Arbeitsfähigkeit realistisch einzuschätzen.
Dieser sehr persönliche Bericht eines Betroffenen zeigt, wie der Einsatz des «ressourcenorientierten Eingliederungsprofils» (REP) funktionieren kann. Worum geht es also?

Einsatz des REP in geeigneten ­Konstellationen

Das REP sollte bei länger andauernden Arbeitsunfähigkeiten eingesetzt werden, sobald eine Teilarbeitsfähigkeit vorhanden ist. Der Arbeitgeber sollte den Prozess gemeinsam im Austausch mit dem Patienten, seinem Arbeitnehmer, initiieren. Dies gilt vor allem, wenn nicht ganz klar ist, welchen Belastungen der Arbeitnehmer gewachsen ist. Auch das Case Management seitens Taggeld- oder Unfallversicherer bzw. der IV-Stelle kann den Arbeitgeber dazu anregen, das REP einzusetzen.

Das REP im Verhältnis zum Arztzeugnis und zu anderen Arbeitsplatzbeschreibungen

Das REP ersetzt die Arbeits(un)fähigkeitsbescheinigungen der Unfall- und Taggeldversicherer nicht; es ergänzt sie aber sinnvoll und fördert die Ausstellung der Arztzeugnisse seitens Ärzteschaft in Kenntnis der Arbeitsplatzanforderungen und Rahmenbedingungen. Der Fokus liegt auf den Ressourcen statt auf den gesundheitlichen Defiziten.
Die Swiss Insurance Medicine (SIM) hat im März 2019 neu ein zum REP passendes Arbeitsfähigkeitszeugnis entwickelt, das idealerweise in Verbindung mit dem REP einzusetzen ist.
Der Einsatz des Jobprofils der SUVA oder anderer detaillierter Arbeitsplatzbeschreibungen kann ebenfalls hilfreich sein. Viele der Beschreibungen sind vorwiegend auf körperliche Anforderungen ausgerichtet, während es sich beim REP um ein umfassendes Instrument handelt. Beim REP sind neben körperlichen Anforderungen auch zahlreiche kognitive, mentale und psychosoziale Aspekte einbezogen. Durch einen webbasierten modularen Aufbau ist das REP sehr anpassungsfähig für alle Aspekte, die den Arbeitsplatz beschreiben.

Ein Beispiel illustriert den Aufwand für das Ausfüllen des Fragebogens durch den Arzt

Sinnvollerweise wird die Beurteilung anlässlich des Arztbesuches im Beisein des Patienten abgegeben. Für das Ausfüllen des Fragebogens ist inkl. Aufwand für den Einbezug des Patienten etwa eine halbe Stunde einzuplanen. Kann nicht klar zugeordnet werden, ob eine Anforderung möglich oder nicht möglich ist, lassen sich Grenzen der Belastbarkeit beschreiben. Das REP versachlicht und unterstützt besonders bei psychischen Störungen die ressourcenfokussierte Kommunikation zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Ärzteschaft.
Der Zentralvorstand der FMH hat sich bereits in der Sitzung vom 16. November 2017 für eine Unterstützung der neuen Initiative ausgesprochen [1].
Abbildung 1: Beispiel Beurteilung der Arbeitsfähigkeit unter psychosozialen Gesichtspunkten: Auszug aus dem REP-Katalog.

Breit abgestützte Entwicklung

Das neue Eingliederungs-Instrument wurde von Compasso in Zusammenarbeit mit Vertretern der Ärzteschaft, der Arbeitgeber, der Sozialpartner und der Sozialversicherer entwickelt.

Über Compasso

Compasso (www.compasso.ch) nimmt als neutrales Netzwerk eine wichtige Rolle in der beruflichen Eingliederung ein: Es vernetzt die Arbeitgeber mit den relevanten Systempartnern, um gemeinsam passende Instrumente zu entwickeln. Mitglieder wie Grossunternehmen, Branchen- und Regionalverbände, Sozial- und Privatversicherer bringen sich solidarisch ein. Dadurch erhalten interessierte Unternehmen – insbesondere auch KMU – kostenlos praxistaugliche Informationen und Instrumente zu ihrer Unterstützung bei der Erhaltung der Arbeitsmarktfähigkeit von Mitarbeitenden mit Beeinträchtigungen und bei der beruflichen (Wieder-)Eingliederung.

Motivation zur Mitwirkung auf allen Seiten

Arbeitgeber wünschen sich möglichst präzise Informationen zur Einsatzfähigkeit von Mitarbeitenden nach längerer Abwesenheit. Ein zunehmender Fachkräftemangel erhöht das Interesse der Arbeitgeber weiter, ihre Mitarbeitenden möglichst schnell zurück in den Arbeitsprozess zu bringen. Deshalb starten Arbeitgeber den Eingliederungsprozess mit dem REP immer häufiger – bei Abwesenheiten wegen Krankheit oder nach Unfällen.
Patienten haben eine höhere Wahrscheinlichkeit im Arbeitsprozess zu bleiben und nicht dauerhaft invalid zu werden, wenn sie rasch an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Viele Patienten wissen nicht, welche ­Belastungen ihnen gesundheitsbedingt möglich sind, und haben den Fokus oft auf dem, was sie nicht mehr können (Glas ist halb leer). Das Ausfüllen des Kriterienkatalogs im REP-Prozess ist hier ein erster Schritt in Richtung Fokussierung auf das halbvolle Glas.
Ärzte legen ihren primären Fokus auf die Behandlung der gesundheitlichen Störung. Wenn sie sicher sein können, dass der Arbeitgeber zur Eingliederung Hand bietet, sind sie aber gerne bereit, an einer schnellen Reintegration am Arbeitsplatz mitzuarbeiten. Die Arbeitsplatzbeschreibung mittels REP ermöglicht eine fundierte Einschätzung der (Teil-)Arbeitsfähigkeit durch den Arzt.

Entschädigung des Arztes für das ­Ausfüllen des REP mit SIM-Arbeitsfähigkeitszeugnis

Der behandelnde Arzt erhält für das vollständige Ausfüllen des ärztlichen Teils und Retournieren des REP CHF 100.–. Diese Kosten werden vom Auftraggeber (i.d.R. dem Arbeitgeber seines Patienten) übernommen, weswegen der Arzt den Prozess zwar anregen und unterstützen, aber nicht selbst initiieren sollte.

Gewährleistung Datenschutz

Die Personendaten werden erst nach dem Download eingefügt, so dass keine schützenswerten Daten auf dem Server von Compasso verbleiben können.
Gegenüber dem Arbeitgeber gibt der Arbeitnehmer mit Unterschrift an, dass er einverstanden ist, im Prozess mitzuwirken. Im REP-Prozess werden keinerlei ­gesundheitsspezifische Daten wie Diagnosen oder ­Befunde ausgetauscht. Es werden ausschliesslich Informationen an den Arbeitgeber weitergegeben, welche die Einsatzfähigkeit in Bezug auf die konkreten Anforderungen des Arbeitsplatzes betreffen.

Fazit

Das REP erfreut sich bei Arbeitgebern und Betroffenen wachsender Beliebtheit, weil sich der Aufwand für alle Beteiligten lohnt. Eine Weiterentwicklung des Profils für Menschen mit Beeinträchtigungen aus Krankheit, Unfall oder Behinderung ist bereits angedacht: Es soll zukünftig im Bewerbungsprozess eingesetzt werden können, um bei der Rekrutierung eine gesundheitliche Eignung festzuhalten.
Die Autoren erklären, dass keine Interessenskonflikte bestehen.
Regina Knöpfel
Stv. Fachentwicklung ­Compasso
Knöpfel Life Consulting AG
Seestrasse 45
CH-8002 Zürich
regina.knoepfel[at]compasso.ch
1 Glarner J. Nachrichten aus dem ­Zentralvorstand. Schweiz Ärzteztg. 2018;99(06):172.