Indikationen-Set für Seelsorge entwickelt

Tribüne
Édition
2019/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17904
Bull Med Suisses. 2019;100(33):1084-1086

Affiliations
Seelsorger und Ethikbeauftragter, St. Galler Psychiatrie-Dienste Süd

Publié le 13.08.2019

Die Achtsamkeit für spirituelle Bedürfnisse ist in den letzten Jahren spürbar gestiegen. Dies auch, weil Palliative Care inzwischen landesweit etabliert ist. Offen blieb aber bislang, wie die notwendige Verzahnung einer Spiritual Care mit Medizin und Pflege konkret zu gestalten sei. Nun hat eine neunköpfige Forschungsgruppe von Seelsorgenden aus Bern und St. Gallen unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Traugott Roser erstmals ein Indikationen-Set dafür erarbeitet. Es soll medizinische Berufsgruppen unterstützen, spirituellen Bedarf einfacher zu erkennen und durch Beizug professioneller Seelsorge gezielter aufzugreifen.
Die interdisziplinäre Konferenz von Bigorio hat bereits 2008 festgehalten, dass «Spiritualität wesentlich zur ganzheitlichen Versorgung gehört». Daher sei das bio-psychosoziale Modell um die vierte Dimension zu ­ergänzen, hiess es. Die Konferenz plädierte dafür, es ­jedoch nicht nur bei einer isoliert zu verstehenden «Ergänzung» zu belassen, sondern die Interaktionen aller vier Dimensionen ins Auge zu fassen, im Sinne ­einer umfassenden Wahrnehmung des Patienten [1]. So seien spirituelle Ressourcen zu erfassen und zu evaluieren. Entsprechend fordern heute die Nationalen Leitlinien Palliative Care in der Schweiz existenzielle, spirituelle und religiöse Bedürfnisse der Beteiligten gezielt aufzunehmen, um einen Beitrag an die subjektive Lebensqualität wie die Wahrung der Personenwürde zu leisten [2].

Besser verzahnen

Durch die landesweite Verfügbarkeit professioneller Seelsorge im Gesundheitswesen, namentlich im sta­tionären Bereich, hat sich in der Folge vor Ort zwar eine individuell geprägte interdisziplinäre Zusammenarbeit herausgebildet. Unklar blieb aber weithin, wie seelsorgliche Interventionen systematisiert abgerufen und inwiefern sie allenfalls mittels medizinischer ­Indikationen konkret begründet werden könnten. Das nun entwickelte Indikationen-Set liefert dazu erstmals ein praktikables Instrument. Es liegt in einer Kurz­fassung im Postkartenformat für die Alltagspraxis vor (Abb. 1) sowie in einer Langfassung, die für die Aus-, Fort- und Weiterbildung konzeptioniert ist und die notwendigen Hintergrundinformationen liefert [3].

Résumé

Ces dernières années, l’attention apportée aux besoins spirituels a nettement augmenté. Ceci également dans la mesure où les soins palliatifs sont dispensés dans toute la Suisse. Toutefois, jusqu’à présent, la manière d’organiser les liens nécessaires entre soins spirituels, médecine et soins n’avait pas encore été précisée. Désormais, un groupe de recherche composé de neuf aumôniers de Berne et Saint-Gall et placé sous la direction scientifique du prof. Traugott Roser a élaboré un kit d’indications à cet effet. Il aidera les groupes professionnels médicaux à reconnaître plus facilement un besoin spirituel et à y répondre en faisant appel à une assistance spirituelle professionnelle.

Vorgehen nach Delphi-Methode

Die Forschungsgruppe von vier Seelsorgerinnen und fünf Seelsorgern aus den Bereichen Akutspital, Psychiatrie, Palliative Care, Altersinstitution und Hospiz unter der Federführung von Renata Aebi (Sargans) und Pascal Mösli (Bern) hat das praxisorientierte und konsens­basierte Indikationen-Set gemeinsam entwickelt. Die wissenschaftliche Leitung hat Prof. Dr. Traugott Roser, Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Münster in Deutschland, übernommen. Das Team folgte dabei der anerkannten Delphi-Methode [4]. Sie dient der Entwicklung von Best-Practice-Leitlinien durch einen strukturierten Kommunikationsprozess unter Expertinnen und Experten. So hat das insgesamt 10-köpfige Team im Verlauf des Prozesses auch 32 externe Fachvoten eingeholt, welche die bis dahin vorliegenden Ergebnisse kritisch hinterfragten und würdigten. Sie wurden anonymisiert ausgewertet und in die weitere Arbeit integriert. Diese Voten waren fachlich und methodisch breit gefächert. Sie stammten aus den Bereichen Pflege und Medizin, dies aber auf den unterschiedlichsten Ebenen wie Leitung, Assistenz, Weiterbildung, Fachverantwortung, Fachperson sowie Wissenschaft, und zwar aus ­diversen Alterseinrichtungen, Hospizen, Palliative-Stationen, Spitex, Spitälern und ­Psychiatrie. So ist das Indikationen-Set entstanden, das Gesundheitsfachleute darin unterstützt, «spirituellen Bedarf» besser und gezielter zu ­erkennen.
Abbildung 1: Kurzfassung Indikationen-Set.
Seelsorge arbeitet traditionell zwar auch unabhängig von Indikationen als aufsuchende Seelsorge, die das freie und nicht zielgerichtete Gespräch anbietet und praktiziert. Die Begrifflichkeit der Indikation erscheint ergänzend gleichwohl sinnvoll, weil Seelsorge so gleichsam die «Sprache» der Gesundheitsberufe spricht und damit die interprofessionelle Zusammenarbeit erleichtert. Dies fördert zugleich ein gemeinsames gesundheitsbezogenes Verständnis der Spiritualität, das diese als Ressource und Bedürfnis begreift, theologisch validiert ist und sich durch Offenheit für religiöse wie nichtreligiöse Personen auszeichnet. Während sich im englischsprachigen Raum der Begriff des spiritual assessment [5] schon durchgesetzt hat, ist er im deutschsprachigen Raum bisher nicht bekannt und wird somit hier erstmals explizit eingeführt.

Vier Ebenen der Spiritualität

Das aus diesen Überlegungen resultierende Indikationen-Set fokussiert letztlich auf vier thematische Ebenen, aus denen heraus medizinische Indikationen für den Einbezug der Seelsorge abgeleitet werden. Diese vier basalen Ebenen der Spiritualität sind Sinn, Transzendenz, Identität und Werte. Das Set schliesst damit an das im Kanton Waadt entwickelte STIW-Verfahren an [6], so benannt nach den vier Anfangsbuchstaben der vier genannten Spiritualitätsebenen. Es geht dabei jeweils von einer konkreten Beobachtung aus, aus der heraus spezifische Indikationen abgeleitet werden.
Es benennt zunächst das ihr zugrunde liegende Thema und folgend das Ziel der seelsorgerlichen Intervention. Dabei wurden die vier Ebenen in einer zweiten Kategorisierung noch präziser gefasst. Auf der Ebene «Sinn» erfolgte eine Unterteilung in Sinn- und Schicksalsfragen sowie in den Bereich Trauer und Verzweiflung. Auf der Ebene «Transzendenz» erfolgte eine Unterteilung in die Themen Ungewissheit und Glauben sowie Rückzug und Isolation. Auf der Ebene «Identität» erfolgte eine Unterteilung in die Themen Scham- und Schuld­gefühle sowie Identitätskonflikt und Kontrollverlust. Die Ebene «Werte» wird unter dem Stichwort «Ethische Konflikte» genauer erfasst. So entstand ein übersicht­liches Set, das praxistauglich ist und ein transparentes, standardisiertes Vorgehen beim Entscheid über den Einbezug der Seelsorge in der Behandlung ermöglicht. Es ist unter www.indikationenset.ch abrufbar.

Ein Set für die Praxis

Das konkrete Vorgehen sei an drei Beispielen kurz illustriert.

Beispiel 1

Beobachtung: Patient wirkt grübelnd hadernd, zeigt widersprüchliche Emotionen, äussert Ohnmacht und stellt Fragen nach dem Warum.
Indikation: Ebene Sinn – Es geht darum, das Schicksal als eigenen Prozess verstehen zu wollen.
Handlung: Seelsorge stellt Zeit zur Verfügung für aktives Zuhören, achtsame Präsenz und Beratung bei emotionalen, philosophischen und religiösen Fragen. Sie begleitet im Selbst­erleben, bietet Deutungs- und Interpretationsraum an, anerkennt Leiden und würdigt die Einmaligkeit der Person.

Beispiel 2

Beobachtung: Patient äussert Ängste, Hoffnungslosigkeit oder Wut und Verbitterung und signalisiert religiöse Bedürfnisse oder stellt religiöse Fragen.
Indikation: Ebene Transzendenz – Es geht darum, Glaubenskrisen, Jenseitsvorstellungen, Zukunfts­angst, allenfalls auch krankmachende Religiosität anzusprechen und zu bearbeiten.
Handlung: Seelsorge macht selbst ein religiöses Angebot oder stellt es her. Sie thematisiert die Verbindung zu eigenen spirituellen Ressourcen, erarbeitet und formuliert Wünsche und Fragen, thematisiert lebensförderliche Aspekte der Religiosität und anerkennt individuelle Deutungsrahmen als Teil des Glaubens.

Beispiel 3

Beobachtung: Patient wirkt belastet durch biografische Einschnitte oder traumatische Erfahrungen, er kreist um Ungeklärtes und Unerreichtes.
Indikation: Ebene Identität – es geht um Fragen von Scham, Schuld und Vergebung, Lebensbilanz und Brüchigkeit des ­Lebens.
Handlung: Seelsorge bietet Raum für biografische Reflexion und Lebensbilanz. Sie unterstützt bei der Suche nach innerem Frieden und hilft, Spannungen auszuhalten. Sie nutzt Rituale zur Entlastung von Scham und Schuld, bietet an, die Identität zu stärken, begleitet Veränderungsprozesse, hinterfragt belastende Gottesvorstellungen und anerkennt die Lebensleistung.

Einfach, praktikabel, zielgerichtet

Das nun vorliegende Set schliesst nicht nur niederschwellig an den Behandlungs- und Pflegealltag an, bei dem Mitarbeitende von Gesundheitsberufen Bedürfnisse, Äusserungen und Verhaltensweisen wahrnehmen, die die Spiritualität berühren. Es bietet ihnen zugleich ein ausgesprochen praktikables Instrument an, um eine entsprechende Einschätzung und Abklärung vorzunehmen sowie spirituelle Bedürfnisse rasch und zielgerichtet zu identifizieren.
Das Set kann ambulant und stationär eingesetzt werden und eignet sich auch gut zur Dokumentation. Es wahrt die Autonomie von Patienten, indem Seelsorgekontakte in Verbindung mit medizinischen Indikationen gesetzt werden. Es verbessert die interdisziplinäre Zusammenarbeit und fördert die niederschwellige ­Zugänglichkeit zur Seelsorge, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder zur persönlichen spirituellen Haltung.

Praxisnahe Autorengruppe

Das Forschungsteam bestand aus Prof. Dr. Traugott ­Roser, Lehrstuhl Praktische Theologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, die Co-Autoren sind Renata Aebi, Spitalseelsorgerin und Beauftragte für Seelsorge in Palliative Care, Evangelisch reformierte Kirche des Kantons St. Gallen, Pascal Mösli, Verantwortlicher für Spezialseelsorge und Palliative Care, ­Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn, sowie Anne-Katherine Fankhauser, Pfarrerin und Heimseelsorgerin in Burgdorf, Saara Folini, Pfarrerin und Heimseelsorgerin in Bern, Ulrich Gurtner, Spitalseelsorger im Spital Oberaargau, Reinhold Meier, Psychiatrieseel­sorger und Ethikbeauftragter St.  Galler Psychiatrie-Dienste Süd, Hansueli Minder, Heimseelsorger in ­Steffisburg, Marlies Schmidt-Aebi, Spitalseelsorgerin Spitalregion RWS Kanton St. Gallen, Thomas Wild, Co-Leiter Seelsorge Inselspital Bern.
Dipl. theol. Reinhold Meier
St. Galler Psychiatrie-Dienste Süd
Klinik St. Pirminsberg
CH-7312 Pfäfers
reinhold.meier[at]psych.ch
1 BIGORIO 2008: Empfehlungen zu Palliative Care und Spiritualität. Konsens zur «best practice» für Palliative Care in der Schweiz, 1.
2 Bundesamt für Gesundheit (BAG) und Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (Hg. GDK, 2011). Nationale Leitlinien Palliative Care, Bern, 4.
4 Roberts DL, Kovacich J (2018). Modifying the Qualitative Delphi Technique to Develop the Female Soldier Support Model. The Qualitative Report 23(1), 158–67.
5 Taylor EJ (2016). Spiritual assessment, in Ferrell BR (Hg.), Spiritual, religious, and cultural aspects of care. New York: Oxford University Press, 1–28.
6 Monod S, Rochat E, Büla C (2006). Quelle place donner à la sphère spirituelle dans la prise en charge des patients âgés. Revue médicale suisse, 85. Accès: http://revue.medhyg.ch/article.php3?sid=31758.