Denn sie wissen nicht, was sie tun ...

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17773
Bull Med Suisses. 2019;100(15):546

Publié le 09.04.2019

Denn sie wissen nicht, was sie tun …

Herrn Markus Huber ist für seine erweiternden Gedanken zur Bestimmung der Arbeitsfähigkeit bei psychiatrischen Patienten/-innen zu danken. Interessant ist seine Schlussfolgerung, dass wir Mediziner/-innen die Übernahme dieser die Patienten/-innen existen­tiell betreffenden Entscheide in Frage stellen sollten. Die Einzelfallbeurteilung der Versicherungsmedizin ist aus Gründen, wie auch von Herrn Huber ausgeführt, nicht valide und fern jeder Realitätsprüfung. Die Wirksamkeit einer Behandlung kann im Einzelfall nicht vor­ausgesagt werden, ebenso wie die Pro­gnose zur Fähigkeit der Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit. Dieses Problem bei Einzelfallbeurteilungen ist uns Ärzten/-innen aus vielen Bereichen der Medizin bekannt.
Was im Einzelfall nicht möglich ist, wäre allerdings im Rahmen einer kollektiven Nach­untersuchung über medizinische Interventionen und Beurteilungen machbar. So wie z.B. eine Studie von Herrn Niklas Baer erhebt, dass die Arbeitsintegrationsmassnahmen nur bei 25% der Teilnehmer/-innen zum Erfolg führen. Noch nie wurde das Schicksal des Kollektivs derjenigen untersucht, welche Renten­ablehnungen oder -kürzungen erlebt haben. Diese Menschen tragen die finanziellen und existentiellen Folgen der IV-Sanierung. Nicht alle beziehen Sozialleistungen, viele erleiden ­einen vorzeitigen Vermögensverzehr, leben von Verwandtschaftsunterstützung usw. Zusätzlich geht das Ausmass der Folgen für die mitbetroffenen Kinder vergessen.
Eine (umfangreiche) sozialwissenschaftlich-medizinische Nachuntersuchung bei Menschen nach Rentenablehnung würde Auskunft geben über die Legitimation der Rentenprüfverfahren des letzten Jahrzehnts. Z.B. ein Vergleich des Kollektivs berenteter Personen mit denjenigen in Arbeitsintegra­tionsprogrammen unterstützten Personen als auch mit dem Kollektiv der Personen mit abgelehnten Rentenanträgen (vergl. Stichprobe Doris Brühlmeier, SÄZ vom Juni 2017). Die Leiterin der Versicherungsmedizin der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich erklärte anlässlich einer Fortbildung, ihr Fach sei «der Wahrheitssuche verpflichtet». Angefragte Versicherungsmediziner/-innen beklagen fehlende Ressourcen. Die IV-Stellen befinden, keinen Auftrag zu haben. Richter/-innen behaupten, nicht von der Unzufriedenheit der behandelnden Ärzte/-innen zu wissen. Die ­Politik zeigte bisher kein Interesse an Transparenz, und die Betroffenen haben keine Lobby.
Wenn Herr Huber die Rentenprüfung als linguistische Angelegenheit betrachtet, möchte ich anfügen, dass für die behandelnden Ärzte/-innen zusätzlich erschwerend die Sprachlosigkeit unserer Patienten/-innen hinzukommt. So wie diese ihr Leiden nicht verbalisieren können, so sind Behandler/-innen ebenso häufig erst nach Jahren der ­Therapie in der Lage, gemeinsam mit den Patienten/-innen die Worte für deren Leiden und deren Geschichte zu finden (lesenswert die Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Carolin Emcke über die Sprachlosigkeit bei Opfern von Gewalt und den Helfern in Weil es sagbar ist). Dann sind die Rentenanträge bereits abgelehnt.