Reiselust

Horizonte
Édition
2019/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17731
Bull Med Suisses. 2019;100(16):597

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 16.04.2019

Wie riesige Eisberge überragen Kreuzfahrtschiffe die Altstadt von Venedig. Viele haben genug von den über 30 Millionen Touristen, die jährlich die Serenissima überfluten. Ab Mai 2019 soll es ein Eintrittspreis richten. Drei Euro Aufschlag auf alle Fahrscheine, eine lächerliche Kurtaxe. Das Wahlversprechen des amtierenden Bürgermeisters ist eine Scheinlösung, die keine Wirkung auf die Anzahl der Besucher haben wird. Man könnte auch nach China ausweichen, wo Venedig nachgebaut wurde. Ein Plagiat für die chinesische Mittelschicht. Eine Fake-Architektur, die vielleicht nach dem Untergang des Originals auch Europäer anlocken wird.
Auch Mimikry hat seinen Reiz. Etwa Disneyland, Swissminiatur oder Ballenberg. Unzählige historische Denkmäler, wie die Dresdner Frauenkirche, die Warschauer Altstadt oder die Luzerner Kapellbrücke sind ein Nachbau des Originals.
Das Wichtigste sind die Geschichten der Reiseunternehmer, deren Produkte das Wahre und Authentische vermarkten. Ein in allen Prospekten vielgebrauchter Lockbegriff. Die heutige Wortverwendung stammt aus dem Mittelalter. Authentica beglaubigen die Herkunft der Reliquie eines toten Heiligen. Es muss nicht immer das Original sein, denn das ursprüngliche Wunder wirkt auch in den Kopien nach. Das Vergangene ist eine Verlustgeschichte, unwiederbringlich vorbei. Ruinen und Tote werden für die Gegenwart aufbereitet. Die touristische Illusionsmaschinerie lässt sie wiederauferstehen, als Bourbaki Panorama, als mythische Rütliwiese, als Son et Lumière oder als Ritter-Hüpfburg für die Kleinen. Schloss Neuschwanstein oder der Torre Belvedere in Maloja sind Wahrzeichen einer romantischen Nostalgie, die nicht zufällig im 19. Jahrhundert mit dem Tourismus aufblühte. Heidi und Schellen-Ursli sind Wegbe­reiter der aktuellen Erlebniswelten. Der Heimatschutz, 1905 gegründet, sorgt für die Kulissen. Seit Jahr­zehnten vergibt er jährlich den Wakkerpreis für beispielhaften Ortsschutz. Mit einer roten Liste bedrohter Baukultur oder Ferien im Baudenkmal versucht er, das Alte zu bewahren. Historisch oder vergangen ist nicht dasselbe. Die Schweiz ist ein Museums­land. Gemäss www.museums.ch gab es 2015 rund 1164 Institutionen, die in irgendeiner Form vergangene ­Objekte konservieren. Das Bedürfnis nach Verwurzelung und Kontinuität ist ein mächtiger Impuls für die organisierten Zeitreisen durch Simulation und Nachahmung.
Präsenz Schweiz betreibt Nation Branding im Namen des EDA. Wer seinen 10. Platz mit 250 000 Gästebetten unter 136 Länderdestinationen behaupten will, muss ­etwas bieten. Das Alpenland ist nicht einmalig wie Venedig, und die Konkurrenz schläft nicht. Die Werbekasse für den Schweizer Tourismus darf jährlich mit 50 Millionen Franken rechnen, um Logiernächte sicherzustellen.
Valentin Groebner, Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern, hat zum Tourismus ein kluges, unterhaltendes Buch geschrieben. Willkommen im Retroland, so der Titel, «der geträumten Zone der verlangsamten Zeit, der unmittelbaren Empfindung, des pittoresken Authen­tischen – und seiner langen Vorgeschichte». Es geht ­darin um Fiktionen, Kitsch und historische Inszenierungen, um die Bildermaschine der weltweit drittgrössten Dienstleistungsindustrie. Es geht aber auch um Sehnsuchtsorte, Bildungsabsichten, kollektive Sonnenversprechen und Stimmungsaufheller. Am Beispiel der Sacri Monti im Piemont und in der Lombardei zeigt der Autor, wie schon im 16. und 17. Jahrhundert eine begehbar nachgebaute Passionsgeschichte unzählige Pilger und Neugierige anlockte. In seinem Psychogramm der Reisewilligen finden wir uns selbst, die ­eigenen Empfindungen oder die Kompensation unserer Defizite. Das Plakat eines Schweizer Reiseunternehmers brachte es auf den Punkt: «Reisen ist die zukünftige Erinnerung an sich selbst.»
erhard.taverna[at]saez.ch
Groebner V. Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen. Frankfurt am Main: Fischer Verlag; 2018.