Interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Medizin und Recht

Tribüne
Édition
2019/21
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17728
Bull Med Suisses. 2019;100(21):744-746

Affiliations
lic. iur., Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Haftpflicht- und Versicherungsrecht, MAS Versicherungsmedizin
indemnis, Rechtsanwälte für Unfallopfer, Privat- und Sozialversicherte, Basel

Publié le 22.05.2019

Ein unterschiedliches Verständnis in der Medizin resp. Versicherungsmedizin betref­fend juristische Begriffe wie beispielsweise «Objektivität», «anwendbarer Krankheitsbegriff» oder «Arbeitsfähigkeit» sowie mangelhafte Kommunikation zwischen Medizin und Recht sind für die schlechte Reliabilität medizinischer Gutachten mitverantwortlich. Die Aufgaben von Medizin resp. Versicherungsmedizin und Recht müssen klar getrennt und die interdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert werden. [1]
Der vorliegende Beitrag zeigt im Hinblick auf fünf versicherungsmedizinische Begriffe (Ziff. 1 bis 5) auf, weshalb die Kommunikation zwischen Medizin und Recht so wichtig ist. Abschliessend wird auf die Aufgabenverteilung zwischen Medizin, Versicherungsmedizin und Recht eingegangen (Ziff. 6).

Résumé

L’hypothèse selon laquelle la fiabilité en partie insuffisante des expertises médicales est due essentiellement à la nature même de la science médicale et à sa marge d’appréciation inhérente est une hypothèse trop réductrice.
Les différences de compréhension faites en médecine et en médecine d’assurance des termes juridiques: «objectivité», «lien de causalité», «notion de maladie», «aptitude au travail» et «vraisemblance prépondérante» ainsi qu’une communication inadéquate entre la médecine et le droit sont d’autres facteurs qui ont une influence sur la fiabilité des expertises médicales.
Les tâches de la médecine respectivement de la médecine d’assurance et du droit doivent être clairement séparées et la coopération interdisciplinaire doit être encouragée.

1. Objektivität [2]

– Der Begriff der Objektivität ist im Invalidenver­sicherungsrecht deckungsgleich mit dem Begriff der Objektivität in der Medizin. Verlangt wird nach Art. 7 Abs. 2 ATSG [3], dass die Invalidität nicht mit der subjektiven Selbsteinschätzung der versicherten Person begründet wird. Das bedeutet aber sowohl aus juristischer als auch aus medizinischer Sicht nicht, dass die Aussagen der versicherten Person im Rahmen der Anamnese und Untersuchung nicht in die medizinische Beurteilung einfliessen dürfen und müssen.
– Der Begriff der Objektivität im Unfallversicherungsrecht unterscheidet sich davon dann, wenn es um die Beurteilung bleibender, rentenrelevanter unfallbedingter Gesundheitsstörungen durch die Unfallversicherung geht. In diesem Zusammenhang nämlich sind gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung Unfallfolgen nur dann objektiv ausgewiesen, wenn die erhobenen Befunde bildgebend und/oder apparativ nachgewiesen werden können, wobei die angewendeten Untersuchungsmethoden von Forschern und Praktikern der medizinischen Wissenschaft auf breiter Basis anerkannt sein ­müssen. Diese bundesgerichtliche Rechtsprechung muss hinterfragt werden, da sie aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar ist und es keine gesetz­liche Grundlage für eine Unterscheidung zwischen bildgebend/apparativ und nicht bildgebend/apparativ ausgewiesenen Unfallfolgen gibt.
– Der Jurist setzt Objektivität oft mit Beweistauglichkeit gleich. Da der Jurist grundsätzlich über keine medizinischen Kenntnisse verfügt, meint er häufig, nur glauben zu können, was er sieht. Er versteht nicht, dass ein bildgebender/apparativer Beweis ­sowohl falsch positiv als auch falsch negativ sein kann, welche Bedeutung die Klinik für den Arzt hat und dass der Arzt neben dem Bild und dem Apparat viele andere Methoden kennt, einen Befund aus medizinischer Sicht zu objektivieren.
– Der Versicherungsmediziner geht häufig nicht konsequent vom medizinischen Begriff der Objektivität aus und meint irrtümlich, das Recht verlange von ihm immer einen bildgebenden oder apparativen Nachweis/Beweis.

2. Kausalzusammenhang [4]

– Der Jurist unterscheidet zwischen dem natürlichen und dem adäquaten Kausalzusammenhang. Der Mediziner hat sich nach schweizerischem Recht einzig und allein zum Begriff der natürlichen ­Kausalität zu äussern. Ob der adäquate Kausalzu­sammenhang gegeben ist, ist demgegenüber ausschliesslich eine Rechtsfrage.
– Entscheidend für die Beurteilung der natürlichen Kausalität ist, ob der Unfall eine «conditio sine qua non» für die anhaltenden Gesundheitsstörungen darstellt oder nicht.
– Der Mediziner hat sich an folgende Umschreibung der natürlichen Kausalität durch das Bundesgericht zu halten: «Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die ­alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität der versicherten Person beeinträchtigt hat, der Unfall mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele» [5].
– Bei der Beurteilung der natürlichen Kausalität darf nicht ausschliesslich «post hoc ergo propter hoc» argumentiert werden. Allerdings stellt das Argument der Zeitlichkeit das erste «Hill-Kriterium» [6] dar und ist deshalb selbstverständlich zu berücksichtigen, insbesondere, wenn neben dem Unfall keine andere Erklärung für die Ursache einer Gesundheitsstörung gefunden wird resp. eine andere Ursache weniger wahrscheinlich erscheint oder ausgeschlossen werden kann.
– Nur für den Fall, dass kein natürlicher Kausal­zusammenhang mehr vorliegt, muss der Mediziner gegebenenfalls beurteilen, wann der «status quo ante» (gleicher Gesundheitszustand wie vor dem Unfall) oder der «status quo sine» (Gesundheits­zustand, wie er sich auch ohne Unfall zu einem bestimmten Zeitpunkt eingestellt hätte) eingetreten ist.

3. Krankheitsbegriff [7]

– Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung soll im Sozialversicherungsrecht der biopsychische Krankheitsbegriff gelten. Psychosoziale und soziokulturelle Faktoren bleiben insofern unberücksichtigt, als sie direkt (unmittelbar) dazu führen, dass nicht oder nur noch teilweise gearbeitet wird. Wo solche Faktoren aber zu einer selbständigen Gesundheitsstörung mit funktionellen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit führen, eine solche aufrechterhalten oder verschlimmern, sind sie gemäss konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung zu berücksichtigen.
– Es ist falsch und widersprüchlich, wenn das Bundesgericht heute immer noch behauptet, im Sozial­versicherungsrecht gelte ein biopsychischer Krankheitsbegriff. Die Indikatorenrechtsprechung des Bundesgerichts in der Invalidenversicherung ist Ausdruck des medizinisch geltenden biopsycho­sozialen Krankheitsbegriffs der WHO im Sozialversicherungsrecht [8]. Es ist weder möglich und sinnvoll, die Arbeitsfähigkeit oder die Kausalität allein nach einem biopsychischen Krankheitsbegriff zu beurteilen, noch besteht eine rechtliche Notwenigkeit dazu. Entscheidend ist, dass nur die funktio­nellen Folgen «lege artis» diagnostizierter Gesundheitsstörungen in die Beurteilung der qualitativen und quantitativen Arbeitsfähigkeit einfliessen und berücksichtigt werden. «Lege artis» diagnostizierte Gesundheitsstörungen und deren funktionelle Auswirkungen dürfen aber auf keinen Fall deshalb nicht berücksichtigt werden, weil sie durch psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren verursacht, aufrechterhalten oder verschlimmert werden.

4. Beurteilung der Arbeitsfähigkeit [9]

– Der Jurist hat die aus medizinischer Sicht falsche Vorstellung, dass die funktionellen qualitativen und quantitativen Auswirkungen physischer Gesundheitsstörungen grundsätzlich einfacher zu beurteilen sind als die funktionellen qualitativen und quantitativen Auswirkungen psychischer Gesundheitsstörungen.
– Wenn die Arbeitsfähigkeit eines Versicherten mit ­einer psychischen Gesundheitsstörung [10] beurteilt wird, muss der Mediziner gemäss bundesgericht­licher Rechtsprechung mit den Indikatoren [11] argumen­tieren. Das sollte für den Mediziner eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, denn diese ­Indikatoren stützen sich auf medizinische Empirie [12]. Problematisch ist, wenn das Bundesgericht bis heute gestützt auf eine eigene Indikatoren­prüfung von der medizinischen Beurteilung der ­Arbeitsunfähigkeit abweicht und vollständige Arbeitsfähigkeit erklärt, ohne den Gutachtern Ergän­­zungsfragen zu stellen oder ein Ober­gut­ach­ten/
Gerichtsgutachten anzuordnen. Genauso problema­tisch ist es, wenn das Bundes­gericht deshalb keine Indikatorenprüfung vornimmt und gegebenenfalls keine ergänzende Begutachtung anordnet, weil ein Gutachter vollständige Arbeitsfähigkeit ­attestiert hat. Dass sich die Mediziner gegen die ­direkten Eingriffe in die Beurteilung medizinischer Experten durch Verwaltung und Gerichte nicht wehren, ist erstaunlich. Keiner anderen etablierten Wissenschaft bringen Verwaltung und Gerichte so wenig Vertrauen entgegen wie der medizinischen.
– Auch wenn der Begriff der «Arbeitsfähigkeit» im Gesetz steht, muss sie zunächst vom Mediziner und nicht etwa vom Juristen beurteilt werden. Es ist eine prozentuale Schätzung im Hinblick auf die bis­herige berufliche Tätigkeit einerseits und auf eine den Leiden angepasste Tätigkeit andererseits vor­zunehmen. Dabei ist das tatsächlich erreichbare ­Leistungsvermögen eines Versicherten aus rein ­medizinischer Sicht unter Berücksichtigung von Belastungsfaktoren und Ressourcen zu beurteilen.
– Eine medizinische Einschätzung der Arbeitsfähigkeit in der bisherigen beruflichen Tätigkeit ist für den Mediziner nur möglich, wenn er das konkrete Arbeitsprofil kennt. Im Hinblick auf eine dem Leiden angepasste Tätigkeit muss der Mediziner genau beschreiben, was der Versicherte noch kann und was nicht (qualitative und quantitative funktionelle Einschränkungen).

5. Beweismass der «überwiegenden ­Wahrscheinlichkeit»

– Die Medizin kann sehr oft keinen strikten, unumstösslichen Beweis für eine Tatsache leisten. Aus ­juristischer Sicht gilt eine medizinische Tatsache deshalb – schon und erst – als bewiesen, wenn sie «überwiegend wahrscheinlich» ist.
– Die überwiegende Wahrscheinlichkeit wird in Fragekatalogen sehr oft rein quantitativ umschrieben («mehr als 50% wahrscheinlich»; manchmal wird auch ein Schwellenwert von 75% genannt). Das Bundesgericht hat sich bisher aber nicht auf einen (letztlich wenig aussagekräftigen) Prozentwert festgelegt.
– Das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist nicht erfüllt, wenn eine Tatsache zwar durchaus plausibel, aber eben nur möglicherweise gegeben ist oder aber wenn andere Ursachen ebenso gut in Frage kommen oder sogar näherliegen.
– Hingegen ist überwiegende Wahrscheinlichkeit ­gegeben, wenn aufgrund der Würdigung aller relevanten Sachumstände davon ausgegangen werden muss, dass ein Sachverhalt der wahrscheinlichste aller in Betracht fallenden ist – bei zwei möglichen Sachverhaltsvarianten: die wahrscheinlichere [13].

6. Medizin, Versicherungsmedizin und Recht

– Medizin und Versicherungsmedizin beruhen auf den gleichen medizinisch-wissenschaftlichen Grund­lagen. Der Mediziner unterscheidet sich vom Versicherungsmediziner nur im Hinblick auf sein Tätigkeitsgebiet. (Beispiel: Arbeitsunfähigkeit und natürliche Kausalität müssen vom Mediziner und vom Versicherungsmediziner genau gleich beurteilt werden. Für den Versicherungsmediziner stellt dies eine seiner Hauptaufgaben dar, der behandelnde Arzt muss sich damit nur am Rande seiner Tätigkeit beschäftigen.) Eine «versicherungsmedizinische» Betrachtungsweise allein ist deshalb keine Recht­fertigung dafür, dass eine gutachterliche Beurteilung von den Einschätzungen behandelnder Ärzte abweicht. Allfällige Diskrepanzen müssen aus rein medizinischer Sicht begründet werden können.
– Medizin und Recht müssen klar getrennt werden. Sowohl der Mediziner als auch der Versicherungsmediziner betreiben kein Recht, der Jurist betreibt keine Medizin. (Beispiel: Der Jurist behauptet nicht mehr, gestützt auf medizinische Empirie sei eine ­somatoforme Schmerzstörung mit zumutbarer ­Willensanstrengung überwindbar, was er aufgrund einer verfehlten bundesgerichtlichen Rechtsprechung während elf Jahren getan hat und was elf Jahre lang aus medizinischer Sicht falsch war [14]. Der Mediziner seinerseits soll keine volle Arbeits­fähigkeit attestieren oder einen natürlichen Kausalzusammenhang nur deswegen bestätigen, weil das Bundesgericht eine Vermutung aufgestellt hat.) Mediziner und Versicherungsmediziner haben deshalb die Fragen des Juristen alleine der medizinischen Wissenschaft verpflichtet zu beantworten – aber so, dass die Antwort auf die rechtliche Fragestellung zugeschnitten ist – und der Jurist hat die Frage so zu stellen, dass sie verstanden wird und präzise beantwortet werden kann.

Nutzen der interdisziplinären
Zusammenarbeit

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Medizin und Recht verbessert die Qualität und Reliabilität medizinischer Gutachten, fördert den respektvollen Umgang der beiden Disziplinen untereinander und führt zu gerechteren Entscheidungen von Versicherern und Gerichten. [15]
indemnis
Rechtsanwälte für ­Unfallopfer,
Privat- und ­Sozialversicherte
Erich Züblin,
Advokat
Spalenberg 20
Postfach 1460
CH-4001 Basel

Rain 63, CH-5000 Aarau
zueblin[at]indemnis.ch
www.indemnis.ch
 1 Mit der Thematik des vorliegenden Beitrags hat sich der Autor im Rahmen seines Masterstudiums in Versicherungsmedizin auseinandergesetzt. Der Artikel stellt eine Anwendung der Resultate und eine teilweise Zusammenfassung seiner Master­arbeit in Versicherungsmedizin dar: Züblin E., Psychosomatische Gesundheitsstörungen im Sozialversicherungs-, Privatversicherungs- und Haftpflichtrecht, in: Kieser U. (Hrsg.), Psychosomatische Störungen im Sozialversicherungsrecht. Blicke auf BGE 141 V 281 und darüber hinaus, Schriftenreihe des Instituts für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis (IRP-HSG), Bd. 101, Dike Verlag, Zürich/St. Gallen 2017, 133ff.
 2 Züblin E. a.a.O., S. 285–312.
 3 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, SR 830.1.
 4 Züblin E. a.a.O., S. 219–253.
 5 Im Sozialversicherungsrecht: 4A_444/2010 E. 2.1; BGE 129 V 177 E. 3.1; im Haftpflichtrecht: BGE 132 III 715 E. 2.2; BGE 128 III 180 E. 2d.
 6 Hill AB. The Environment and Disease: Association or Causation? Proceedings of the Royal Society of Medicine. 1965;58:295–300.
 7 Züblin E. a.a.O., S. 253–285.
 8 BGE 141 V 281; BGE 143 V 418.
 9 Züblin E. a.a.O., S. 312–334.
10 BGE 143 V 418 E. 6 und 7.
11 BGE 141 V 281.
12 Henningsen P. Probleme und offene Fragen in der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit bei Probanden mit funktionellen Körper­beschwerdesyndromen. SZS. 2014;499–546.
13 Vgl. BGE 126 V 360 E. 5b; BGE 125 V 195 E. 2; BGE 130 III 324 f. E. 3.2 und 3.3.
14 Zwischen BGE 131 V 49 vom 16. Dezember 2004 und BGE 141 V 281 vom 3. Juni 2015.
15 Bspw. bietet die Universität Basel ein Certificate of Advanced Studies (10 ECTS), ein Diploma of Advanced Studies (30 ECTS) oder einen Master of Advanced Studies (60 ECTS) in Versicherungs­medizin an. Das sind Studiengänge für Mediziner und Juristen, die auf die persönlichen Interessen und Bedürfnisse zugeschnitten werden können. Sie werden unter der Trägerschaft des Swiss Tropical and Public Health Institute (Swiss TPH) in Zusammen­arbeit mit der Academy of Swiss Insurance Medicine (asim), der Evidence-based Insurance Medicine (EbIM, Universitätsspital Basel), dem Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Eberhard Karls Universität, Tübingen, und der Medizinischen Universität Wien durchgeführt.