Grossangelegte Studie gewährt erstmals fundierten Einblick in die Auswirkungen von SwissDRG

SwissDRG und nutzerorientierte Kennzahlen – Zeit Bilanz zu ziehen

Tribüne
Édition
2019/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17661
Bull Med Suisses. 2019;100(14):523-524

Affiliations
a Dr. med., Postdoc Klinische Forschung, Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital Aarau AG, Aarau, Mitglied FMH; b Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin und Endokrinologie, Master of Public Health, Chefarzt Allgemeine Innere Medizin, Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital Aarau AG, Aarau, Mitglied FMH; c Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin und Endokrinologie, Leiter Medizinische Universitätsklinik, Bereichsleiter Medizin, Chefarzt Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, Kantonsspital Aarau AG, Aarau, Mitglied FMH

Publié le 02.04.2019

Bereits im Vorfeld der SwissDRG-Einführung 2012 warnten Kritiker neben einer ­Zunahme des administrativen Aufwands vor verfrühten Entlassungen («bloody ­discharges») von insbesondere multimorbiden Patienten aus dem Akutspital. Befür­worter erhofften sich einen Abbau von Überkapazitäten, eine Reduktion der Spitalliegedauer sowie eine Begrenzung des stetigen Kostenanstiegs.

Bisherige Beobachtungen

Bereits wenige Monate nach nationaler Umsetzung der neuen Spitalfinanzierung wurde von ersten Auswirkungen, vor allem im Langzeitpflegebereich, berichtet. Es zeigte sich, dass mit der weiteren Abnahme der Spitalliegedauer im Akutspital ein grösserer Patienten­anteil frühzeitig an Pflegeinstitutionen überwiesen wurde. Zudem stieg auch der Anteil der medizinisch-pflegerisch komplexeren und aufwendigeren Fälle spürbar an [1]. Sowohl Betreuer von komplexen, chronisch kranken Patienten im Spital als auch Vertreter der Palliativmedizin sahen die u.a. aus ökonomischem Anreiz hervorgegangenen Fallpauschalen bei ihren Patienten als problematisch und vermuteten, dass bei einer verkürzten Spitalliegedauer auch vitale Therapien abgebrochen werden oder nicht zustande kommen [2]. Das Verlangen nach alternativen und individualisierten Vergütungsmodellen im Setting der akutmedizinischen Versorgung von multimorbiden, komplexen ­Patienten wuchs.

Résumé

Le système des forfaits par cas SwissDRG, une structure tarifaire homogène pour les prestations stationnaires, a été introduit en Suisse en janvier 2012. Ses défenseurs espéraient que cela réduirait les capacités excédentaires et la durée des séjours hospitaliers, et que cela ralentirait la hausse des coûts. Ses détracteurs, en revanche, mettaient en garde contre les sorties prématurées (appelées «sorties sanglantes»). Une étude récemment publiée a analysé plus de 2,4 millions d’hospitalisations, en vue d’examiner les conséquences du nouveau financement hospitalier sur la durée de séjour, la mortalité à l’hôpital et le nombre de réadmissions. Elle a révélé que le système SwissDRG n’a pas entraîné de forte réduction de la durée de séjour, mais a débouché sur une impressionnante augmentation des réadmissions. Il faut maintenant poursuivre les travaux pour étudier l’effet sur des indicateurs de qualité plus sensibles.

Zeit, Bilanz zu ziehen

Nachdem nun über sieben Jahre nach der schweizweiten Einführung der Fallpauschalen an allen Akutspitälern ein hoher Grad an Erfahrung vorliegt, hat eine grossangelegte Studie bei hospitalisierten Patienten aus dem internistischen Spektrum erste flächendeckende Resultate zu den Auswirkungen von SwissDRG veröffentlicht. Ziel der im Rahmen des Nationalen ­Forschungsprogramms 74 (NFP 74) [3] durchgeführten Studie war es, den Effekt des neuen Vergütungsmodells auf wichtige nutzer­orientierte Kennzahlen hin zu untersuchen. Anhand von Daten des Bundesamts für Statistik analysierten die Forscher des Kantonsspitals Aarau und der Universität Basel über 2,4 Millionen Hospitalisierungen aus der ganzen Schweiz aus den Jahren 2009 bis 2015. Der untersuchte Zeitraum umfasste damit drei Jahre vor und vier Jahre nach dem Systemwechsel und stellt somit das bisher umfangsreichste Analysespektrum zu den Auswirkungen von SwissDRG im Akutsetting dar. Konkret wurden neben dem Einfluss auf die Spital­liegedauer und die Spital­sterblichkeit vordergründig Auswirkungen auf die Anzahl der Wiedereintritte ­innerhalb von 30 Tagen – ein wichtiger Indikator für Effizienz und Versorgungsqualität – untersucht.

Keinen verstärkenden Effekt auf die Spitalliegedauer durch SwissDRG

Wie von den Befürwortern erhofft und erwartet, zeigte sich, dass die Spitalliegedauer über den gesamten ­Untersuchungszeitraum von 8 auf 7,2 Tage stetig zurückging. Jedoch wurde dieser Trend, zum Erstaunen mancher, mit der Einführung des neuen Vergütungssystems nicht zusätzlich beschleunigt. Ob dieser Trend ohne die Einführung des neuen Tarifsystems anders ausgefallen wäre, lässt sich anhand des Studiendesigns nicht beantworten. Eine mögliche Erklärung wäre die Tatsache, dass in einigen Kantonen schon vor 2012 Fallpauschalen-ähnliche Vergütungssysteme eingeführt wurden. Bei der Spitalsterblichkeit wurde ebenso ein leichter Rückgang beobachtet, verstärkt seit der Implementierung der Fallpauschalen.

Mehr Wiedereintritte

Die Rate der Patientinnen und Patienten, die innerhalb von 30 Tagen nach der Entlassung erneut ins Spital kommen, stieg über den gesamten Untersuchungszeitraum von 14,4% auf 15,0% an. Bemerkenswert ist, dass insbesondere der Anstieg nach der angepassten Tarifstruktur signifikant verstärkt wurde im Vergleich zur historischen Vorperiode bis Ende 2011. Dies könnte ­darauf hinzuweisen, dass die Spitalaufenthaltsdauer in einigen Bereichen bereits eine untere, sinnvolle Grenze erreicht hat. Eine weitere Verkürzung würde so möglicherweise zu einem noch stärkeren Anstieg der Wiedereintritte führen, wie vorgängig in den USA ­beobachtet werden konnte [4]. Limitierend ist zu erwähnen, dass sich aufgrund des assoziativen Studiendesigns kausale Zusammenhänge nur schwer ableiten lassen, jedoch anhand der hohen Datenvalidität die Resultate eine robuste Hypothese hervorrufen. Um präziser über qualitative Aspekte der SwissDRG-Einführung Schlüsse zu ziehen, bedürfte es einerseits einer Mit­berücksichtigung der Sterblichkeit über die Spitalentlassung hinweg, andererseits einer Analyse betreffend Lebensqualität, die insbesondere im multimorbiden Setting von grösster Relevanz ist. Daten hierzu werden von der im Rahmen des NFP 74 an über 30 000 Patienten durchgeführten Interventionsstudie «In-HospiTOOL» bis 2020 erwartet.

Schlusswort

Die kürzlich in der Fachzeitschrift JAMA Network Open veröffentlichte Studie gewährt erstmals einen fundierteren Einblick in die Auswirkungen von SwissDRG auf die Versorgungsqualität in Schweizer Spitälern. Sie zeigt auch, dass es ergänzende, allenfalls sensiblere Analysen braucht, um den Effekt auf weitere Qualitätsindikatoren auf Ebene von Patientinnen und Patienten, Personal und Spitälern zu untersuchen. Diese sind schliesslich unausweichlich, wenn es darum geht, den Nutzen eines flächendeckenden Vergütungsmodells ­final zu beurteilen und hinsichtlich alternativer, individualisierter Optionen zu evaluieren.

Der Originalbeitrag ist frei zugänglich

Alexander Kutz, Lara Gut, Fahim Ebrahimi, Ulrich Wagner, Phi­lipp Schuetz and Beat Mueller. Association of the Swiss diagnosis-related group reimbursement system with length of stay, mortality, and readmission rates in hospitalized adult patients. JAMA Netw Open. 2019;2(2): e188332. doi:10.1001/jamanetwork­open.2018.8332.
Dr. med. Alexander Kutz
Postdoc Klinische Forschung
Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital
Aarau AG
Tellstrasse 25
CH-5001 Aarau
kutz.alexander[at]gmail.com
1 Bieri-Brüning G. Auswirkungen der SwissDRG auf die Pflegezen­tren der Stadt Zürich, Pflegeheimplazierung statt «bloody exit»? Schweiz Ärzteztg. 2013;94(23):893–6.
2 Jakob R, Passweg HGK. Prominent besetztes Symposium zu Diagnosis Related Groups (DRG) am 10. Juni, Ein Tarifsystem auf dem Prüfstand. Schweiz Ärzteztg. 2013;94(17):649–50.
3 Schweizerischer Nationalfonds, http://www.nfp74.ch/de, letzter Zugriff am 21.2.2019.
4 Auerbach AD, Kripalani S, Vasilevskis EE, Sehgal N, Lindenauer PK, Metlay JP, Fletcher G, Ruhnke GW, Flanders SA, Kim C, et al. Preventability and Causes of Readmissions in a National Cohort of General Medicine Patients. JAMA internal medicine. 2016;176(4):484–93.