Wie verunsichere ich meine Patienten?

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17545
Bull Med Suisses. 2019;100(06):165

Publié le 06.02.2019

Wie verunsichere ich meine Patienten?­

Dies kann in mehreren Stufen geschehen und beginnt meist mit der Unsicherheit des Arztes oder der Ärztin. Ergeben Anamnese und erste Befunde wie häufig nur ein vages Bild, kann zwar eine gravierende Erkrankung weitgehend, aber eben nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Früher war die ärztliche Beurteilung am Schluss eines Patienten-Gesprächs gültig und eine Zeitlang wegweisend. Heute wird bereits üblich der Goldstandard im MRI und CT gesucht. Das geht so: Der Pa­tien­t glaubt die Unsicherheit des Arztes zu spüren, möchte Gewissheit. Die Ärztin wie­derum möchte nichts verpassen und verordnet Labor, CT und MRI. Dies ergibt leider in den meisten Fällen kaum eine klare Diagnose. Vielmehr bringen die Untersuchungsbefunde häufig Resultate hervor, zu denen der Patient gar keine Beschwerden angegeben hat. Nun wird der Arzt selber noch unsicherer, weil er sich die Frage stellt, ob die neuen Apparate-Befunde ohne Beschwerden beim Patienten wichtig sind oder nicht. Sucht er jetzt damit das Gespräch mit dem Patienten, der mit diesen Befunden ohne Beschwerden gar nichts anfangen kann, löst er eine grosse Verun­sicherung aus. Die Folgen sind jetzt häufig Arztwechsel, regelmässige Kontrollen und die Überwachung von Befunden, meist mit gros­sem Aufwand und fraglichem Nutzen. Gibt es gute Studien, die die Frage beantworten, wie häufig eine relevante Krankheit diagnostiziert wurde, ohne dass der Patient Beschwerden hatte? Gibt es gute Hinweise, dass die Thera­pie dann einen Krankheitsverlauf wesentlich zum Bessern gewandelt hat?
Mit zwei Beispielen aus dem Praxisalltag möchte ich nun auf die zweite Stufe der Verunsicherung der Patienten hinweisen: Eine junge Mutter wollte bei mir eine Zweitmeinung zu ihrer Asthmatherapie. Mit grossem Engagement wurde ihr von der Lungenärztin eine lebenslange Cortisontherapie mit regelmässigen Kontrollen verschrieben. Man erkenne ein Emphysem gut auf dem CT und man müsse jetzt sehr aufpassen, dass sich das nicht verschlimmere. Auf meine Nachfrage hatte die Patientin gar nie irgendwelche Atemprobleme. Sie arbeitet Teilzeit, wandert gern und führt ein normales Leben. Zur Lungenärztin wurde sie von einem Call-Center überwiesen, das darauf bestand, eine Abklärung vornehmen zu lassen, wenn der nächtliche Husten weiterhin bestehen bleibe. Dieser war nach Ende der Erkältung, aber eben erst nach der ärztlichen Konsultation auch spontan verschwunden.
Das zweite Beispiel erscheint mir noch gravierender. Ein ca. 60-jähriger pflichtbewusster Mann geht beschwerdefrei seit zwei Jahren ­regelmässig zum Urologen und lässt dort seine Gesundheit gut überwachen. Der PSA- Wert wird regelmässig gemessen und bildgebende Verfahren werden als Sicherheitsmassnahme durchgeführt. Beim letzten Besuch war nichts Beunruhigendes zu erkennen und es wurde eine Kontrolle in einem Jahr vereinbart. Gut zwei Monate später erreicht den ­gesunden Sportler, gerade mitten im Aufbautraining zu einem Marathonlauf, ein Telefon aus der Urologen-Praxis, er solle doch bitte zurückrufen. Die beunruhigte Ehefrau ermahnt ihn, dies noch möglichst vor der wichtigen Sitzung am nächsten Tag zu tun. Bereits am Telefon erklärte ihm der Arzt, man hätte eben gerade jetzt (sic) seine CT/MRI-Bilder nochmal kritisch angeschaut und festgestellt, dass die Prostata-Hyperplasie sich Richtung Schliessmuskel bewege und er, der Urologe, sei der Ansicht, dass man das doch besser noch vor den Feiertagen operieren solle. Die Teilnahme am Marathonlauf wurde sofort abgesagt.
In der ersten Stufe der Verunsicherung möchte der Patient ganz sicher wissen, ob er gesund ist und verlangt Untersuchungen, die das ­bestätigen sollten. Leider mit den bereits erwähnten unangenehmen Folgen. In der zweiten Stufe nun spielen Ärztin und Arzt bewusst mit der Verunsicherung des Patienten. Es ist vermutlich eine Unterstellung zu behaupten, das werde getan, um die Praxis rentabel zu ­gestalten, das werde getan, um die durch die Spitäler vorgegebenen Operationssaal-Kapazitäten zu erreichen, und das werde getan, um die von der Politik geforderten Mindestfallzahlen zum Erhalt von Bewilligungen zu erfüllen. Quo vadis Medizin heute?