Café Med - humanes Gesundheitswesen im Fokus

Tribüne
Édition
2019/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17544
Bull Med Suisses. 2019;100(12):439-441

Affiliations
Freie Journalistin

Publié le 20.03.2019

Der Verein Akademie Menschenmedizin hat sich zum Ziel gesetzt, den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen und den Zeitdruck ausser Acht zu lassen. Passend zu dieser Philosophie wurde unlängst das Café Med ins Leben gerufen, eine kostenlose und unabhängige medizinische Beratung für Betroffene und Fachpersonen.
Das Bistro Chez Marion am Zähringerplatz in Zürich kann als eine Art Insel der Auszeit inmitten des täg­lichen Trubels betrachtet werden.
Dr. med. Christian Hess, Facharzt für Innere Medizin und ehemaliger Chefarzt Medizin, Spital Affoltern ZH, und Annina Hess-Cabalzar, MA, vormals Leiterin ­Psychotherapie und Mitglied der Spitalleitung, Spital Affoltern ZH, stehen am Eingang und legen den Ratsuchenden nach einem kurzen Gespräch passende bunte Zettel in die Hand, auf welchen die medizinischen Fachgebiete notiert sind.
In der Regel suchen zwischen 25 und 30 Personen jeden zweiten und vierten Montag im Monat das medizinische Beratungscafé auf. Nebst dem Zürcher Standort existiert seit kurzem auch eine Niederlassung in Luzern, wo ebenfalls eine grosse Nachfrage registriert wurde.
Die beratenden Fachpersonen – Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen sowie eine Sozialarbeiterin – setzen sich zusammen mit den Patienten oder Angehörigen an einen Tisch, als ob sie sich zu einem Kaffee in lockerer Atmosphäre verabreden würden. Aber auch Mit­arbeiter aus Gesundheitsberufen können sich an die Beratungsstelle wenden und ihre Sorgen und Fragen auf den Tisch bringen.
Vor über einem Jahr haben Christian Hess, Annina Hess-Cabalzar und Dr. med. Brida von Castelberg, Fachärztin für allgemeine Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe sowie ehemalige Chefärztin Frauenklinik Stadtspital Triemli, das durch Spendengelder finanzierte Café Med gegründet, das aus einem Team von durchschnittlich zehn Fachpersonen im Pensionsalter besteht, die in der Lage sind, ein Urteil ohne Inter­essenkonflikt fällen zu können. Während zweimal dreier Stunden pro Monat bieten sie Patienten eine kostenlose Unterstützung bei Entscheidungen in Bezug auf Diagnosen, Behandlungen oder Eingriffen an.
«Wir setzen uns für eine langfristige Veränderung im Schweizer Gesundheitswesen ein, indem der Versorgungsauftrag wieder an Bedeutung gewinnen soll», sagt Christian Hess mit Nachdruck. Er stellt fest, dass die Menschen im heutigen hektischen Zeitalter, in welchem der Dialog oft zu kurz kommt, immer öfter Entscheidungshilfen benötigen. Nicht selten zeigen sich Patienten aufgrund fehlender Informationen ver­unsichert und hegen Zweifel im Hinblick auf geplante Eingriffe, die möglicherweise auch rein finanziell ­motiviert sein könnten. Hinzu kommen beispielsweise kürzlich publizierte Zeitungsartikel über fragwürdige Hüftimplantate sowie über mit Bakterien befallene Medizinprodukte, die sich schliesslich an verunreinigten Geräten festsetzen.
Die Initianten des Café Med v.l.n.r.: Brida von Castelberg, Annina Hess-Cabalzar und Christian Hess.

Weniger ist manchmal mehr

Mit der Qualitätsstrategie schaffte der Bund in den vergangenen Jahren immerhin eine Basis zur Weiterentwicklung im Bereich Patientensicherheit.
Pascal Strupler, Direktor des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), fügte ausserdem an, dass alles daran gesetzt werden müsse, um medizinisch unnötige Interventionen zu vermeiden, was eine Sensibilisierung in der ­Ärzteausbildung, aber auch die Entwicklung eines Gesundheits- und Kostenbewusstseins voraussetze.
Die heutzutage betriebene Maximalmedizin scheint zuweilen auf Patienten bedrohlich zu wirken, und es stellt zweifelsohne eine zunehmende Herausforderung dar, sich im Dschungel der zahlreich verfügbaren diagnostischen und therapeutischen Verfahren zurechtzufinden. Doch stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob das Vertrauensverhältnis zum bisherigen medizinischen Ansprechpartner belastet werden könnte, wenn abseits der Sprechstunde aufgrund besagter Unsicherheiten zusätzliche Hilfe in Anspruch genommen wird.
Die Café-Med-Initianten hoffen indes auf das Gegenteil, indem Ratsuchende nach einem solchen kosten­losen Beratungsgespräch in der Lage seien, ihren behandelnden Arzt hinterher mit wichtigen Fragen erneut aufzusuchen.
«Medizinische Fachbegriffe werden oft zu rasch erklärt, und wenn Patienten zudem emotional belastet sind, hören sie nicht immer genau hin. Unser Bestreben besteht darin, die Eigenkompetenz eines jeden Einzelnen zu fördern.» Die Gründer betonen im selben Atemzug auch, keine eigentlichen Zweitmeinungen anzubieten, die zwar von Krankenkassen inzwischen durchaus portiert werden, jedoch immer wieder dazu führen, dass Mediziner einen Konkurrenzkampf unter sich führen und sich der Patient letzten Endes zwischen Stuhl und Bank fühlt. Vielmehr stehe das Café Med für eine selbständige Entscheidungsfindung. Am meisten beschäftigt die Akademie Menschenmedizin der kollektive Vertrauensverlust, und entsprechend ist diese darum bemüht, Gegensteuer zu geben fernab von jeglichem Leistungs- und Kostendruck.
Bislang wurden die Projektverantwortlichen nicht ­direkt mit kritischen Stimmen konfrontiert, ganz im Gegenteil: Manche Ärztegesellschaften begrüssen das Angebot und setzen auch Hoffnungen in Mediziner mit langjähriger Erfahrung, welche Betroffene und ­Angehörige individuell beraten und ihnen neue Wege aufzeigen können.
Eine sogenannte Entkommerzialisierung sowie eine Wertehaltung im Sinne einer Abwertung der Technik und einer Aufwertung des Gesprächs, welche das freiwillige Team anstrebt, dürfte nicht jedermann ins Konzept passen.
Auch nicht deren Vorschlag, Fixlöhne bei Kaderärzten einzuführen, damit diese freier agieren können, auch, was den Dialog mit den Patienten betrifft.
Die Versicherungen monieren, dass sich die Dauer des tatsächlichen ärztlichen Gesprächs nicht kontrollieren lasse und eine beliebige Zeitdauer angegeben werden könnte, was in der Praxis auch immer wieder vorkommen dürfte.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt

Annina Hess-Cabalzar: «Das Gespräch und die Interprofessionalität müssen tarifarisch neu abgebildet werden. Entsprechend bietet der Experimentierartikel Unterstützung, indem einige Kliniken exemplarisch eine solche Kultur in den Vordergrund stellen und diese langfristig evaluieren, was einen wichtigen Anhaltspunkt liefern würde. Eine Reduktion der über­mässigen Generierung von Datenbergen müsste Teil dieses Projekts sein.»
Die Café-Med-Initianten betrachten ihr Angebot als ersten wichtigen Schritt und als mögliches Modell ­verbunden mit einer Nachhaltigkeitsvision, da es nicht darum geht, Leistungen betriebswirtschaftlich und kurzfristig zu erbringen.
Die grösste Schwierigkeit sieht Dr. Hess in der teilweise fehlenden Interprofessionalität verbunden mit dem Umstand, dass viele junge Medizinerinnen und Mediziner nicht mehr lernen, auf den Patienten zuzugehen und ihn wahrzunehmen. Die Kommunikationsfähigkeit werde nicht geschult, und das stelle eine eklatante Lücke im Gesundheitswesen dar, zumal 80 bis 90% ­­aller Krankheiten den Bereich der Grundversorgung betreffen würden. Deshalb plädiert der ehemalige Chefarzt für mehr Praxisassistenzen und entsprechende Anreize. Es reiche beispielsweise im Rahmen eines Gesprächs nicht aus, lediglich zu kommunizieren, dass eine gewisse Patientenzielgruppe von einem bestimmten Eingriff profitieren könne.
Im Falle von Unsicherheiten und Bedenken seitens des Ratsuchenden gelte es, herauszuspüren, wo der Schuh drückt. Ebenso gefragt sind auch die Betroffenen selbst, welche ermuntert werden sollen, offen und ohne Scheu auch heikle Themen anzusprechen – nicht nur im Café Med, wo sich die medizinischen Unklarheiten oft schon ziemlich angestaut haben.

Anspruchsvolle Aufgabe

Existieren auch problematische Aspekte rund um das kostenlose ärztliche Angebot? «Immer wieder konstatieren wir zu hohe Erwartungen in Bezug auf unser Gratisangebot, indem der Eindruck vorherrscht, die beratenden Mediziner würden den Patienten sämt­liche Entscheidungsschritte abnehmen oder Zweit­meinungen anbieten. Das Team ist dabei immer ­wieder erstaunt über die zunehmend komplexen Frage­stellungen, seien dies nun orthopädische Eingriffe, Laborberichte oder widersprüchliche Befunde. Adressen im Hinblick auf Zweitmeinungen werden nur in 5% der Fälle herausgegeben, denn oft erhelle sich der dunkle Himmel bereits während des Dialogs.
Das Fachpersonal, welches für das Café Med im Einsatz steht, muss nicht nur fachlich à jour sein, sondern auch Empathie und kommunikative Fähigkeiten mitbringen. Nicht zuletzt sollte dieses über die Fähigkeit verfügen, zwischen Praxistätigkeit und Entscheidungshilfe zu differenzieren. Wenn nach zwei Stunden manche Personen mit einem entspannten und zufriedenen Gesichtsausdruck das Patientencafé verlassen, zeigen sich auch Christian Hess und Annina Hess-Cabal­zar erleichtert. Wie sagte einst der deutsche Dramatiker August von Kotzenbue: «Die Sonne ist die Universal­arznei aus der Himmelsapotheke.»
Weiterführende Informationen:

10 Jahre Akademie Menschenmedizin

Die Akademie Menschenmedizin (amm) hat sich den Einsatz für ein «menschengerechtes und bezahlbares Gesundheitswesen» auf die Fahne geschrieben. Die unabhängige Organisation, in ­deren Vorstand sich Persönlichkeiten aus den Fachbereichen ­Psychotherapie, Medizin, Pflege und Management ehrenamtlich engagieren, hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 2009 zu einer wichtigen Stimme im Schweizer Gesundheitswesen entwickelt.
Am 31. Januar 2019 wurde das 10-jährige Bestehen mit einem ­Jubiläumsanlass im REHAB Basel gefeiert. Annina Hess-Cabalzar, die Präsidentin der amm, führte die rund 200 Teilnehmenden durch die Veranstaltung, die unter dem Titel «Risiken überall!» stand und neben bemerkenswerten Referaten auch musikalische Höhepunkte sowie theatralisch-­kabarettistische Glanzlichter bot.
Mit der «Demontage des Gesundheitswesens» befasste sich der Frankfurter Kolumnist und Chirurg Bernd Hontschik. Der an der ETH tätige Molekularbiologe Ernst Hafen referierte zum Thema «Meine Daten! Wer bestimmt über deren Verwendung?». Der Philosoph und Publizist Ludwig Hasler kombinierte in seinen Reflexionen zur Condition humaine wie gewohnt Geist und Witz zu ­einem rhetorischen Feuerwerk, das die Zuhörenden packte. «Ich bin mein Risiko! Was tun?» lautete der Titel seines Vortrags.
Umrahmt wurden die Vorträge von musikalischen Einlagen des Pianisten André Desponds und Auftritten und Animationen der Theatergruppe «Sixpack». Dass auch für den direkten Austausch zwischen den Anwesenden genügend Raum geboten wurde, rundete den gelungenen Anlass ab. (BK)
Grosses Publikumsinteresse am Jubiläumsanlass: der ­Molekularbiologe Ernst Hafen bei seinem Referat.
Der Pianist André ­Desponds begeisterte das Publikum mit seinem virtuosen Spiel.
Nathalie Zeindler
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