Sich für ein weniger leidvolles Dasein einsetzen

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17541
Bull Med Suisses. 2019;100(06):164-165

Publié le 06.02.2019

Sich für ein weniger leidvolles Dasein einsetzen

Braucht es Mut, Lebenden etwas wie einen ­Bärendienst zu erweisen, indem man wie ­Dignitasgründer L. Minelli Partei für den lebensfeindlichen und vielleicht doch von der (un-?)gesunden gesellschaftlichen Tendenz, das immerhin zumutbare Joch der Solidarität abzuschütteln, mitverursachten Wunsch Betroffener (nach «assistiertem Ableben») ergreift im Sinne von «Wer könnte etwas dagegen haben, einem kranken Mitmenschen einen letzten Wunsch erfüllen zu helfen?»? 9 von 10 Betroffenen, die den Wunsch äussern, sich zu dieser Art von Ableben verhelfen zu lassen, geben an, dass sie sich seitens der Gesellschaft vernachlässigt, ja «abgeschoben» fühlen. Dies bedeutet, dass man ihnen nicht im Sinne eines etwas naseweisen, hinsichtlich Lebenserhaltung falschen Mitleids «zu Willen sein» müsste, sondern dass die Gesellschaft wieder solidarischer zu werden hat – wenn ihr tatsächlich etwas an ihren Betroffenen, Leidenden und Betagten liegt –, statt sich zunehmend nur noch um sich selbst kümmern zu wollen. Gemäss einem japanischen Sprichwort ist eine Gesellschaft, die nicht mehr zu ihren Betagten schaut, selbst nicht gesund. Wenn man sich jedoch für die Lebensqualität Betagter/Betroffener einsetzen und sich bemühen will, schwer Erträgliches erträglicher zu machen, kann ihnen ihr Dasein wenigstens annehmbarer werden, sie gewinnen den Eindruck, ihr Dasein sei der Gesellschaft doch noch etwas wert, diese schiebe sie nicht an den Rand, lasse sie nicht allein, sei solidarisch usw.
Prof. H. Stalder scheint anzunehmen, die «Palliative Care»-Spezialisten seien nicht in der Lage, das Leiden der Betroffenen zu verstehen, dabei darf man doch (hoffentlich!) davon ausgehen, dass sie – die Palliative Care-Mediziner – legitimerweise andere Grundsätze als er ­haben, wie z.B.: «Je unerträglicher das Leiden, umso dringender soll man sich um Verbesserung der Lebensqualität bemühen.» Gehört es denn tatsächlich zur Medizin, angesichts eines Leidenszustands eines Betroffenen sozusagen den Mut zu verlieren und die Aufgabe, Leiden zu lindern, in diesem Fall, weil besonderer Einsatz nötig, nicht mehr als Herausforderung zu betrachten? Beim Versuch, den Schweregrad des Leidens mittels Empathie zu ermessen, ist Vorsicht nötig, damit man sich nicht z.B. durch den Defätismus ­eines Betroffenen, der vielleicht schon zu Zeiten, als er gesund war, als Mensch nicht gerade der Zuversichtlichste war, irritieren lässt. Umso mehr, als die Tendenz, eine «Negativsicht» als glaubhafter (als eine positive) zu ­beurteilen, weit verbreitet ist. Prof. K. Ernst, ehemaliger ärztlicher Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in der SÄZ vom 30.11.1994, Seite 1902: «Dass depressive Stimmungen und Urteile auf die Meinung der Umgebungspersonen ausstrahlen, beobachtet man nicht nur bei Angehörigen und Freunden Depressiver, sondern auch bei behandelnden Ärzten und sich selbst.»