Haariges

Horizonte
Édition
2018/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.17325
Bull Med Suisses. 2018;99(49):1762

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 05.12.2018

Ein Bart ist Männlichkeit pur. Wir Samichläuse sind die vorläufige Endstufe einer langen Evolution. Rauschebart, Riesenschnäuzer und buschige Augenbrauen, für Hinz und Kunz ein Ebenbild Gottvaters. Ein kosmischer Patriarch, dessen gehorsame Knechte wir sind. Unser langer Weg zu Vollkommenheit war und ist immer wieder bedroht. Von diesen Nöten und Sorgen will ich euch erzählen.
Solange wir abgeschieden in kleinen Gemeinschaften lebten, gab es kaum Probleme. Gesunde Beerenkost und viel Bewegung förderten den Haarwuchs. Wir pflegten Kontakte mit Druiden, Waldtrollen und Zwergen, es gab jährliche Bartolympiaden, bei denen Länge, Glanz und Flauschigkeit bewertet und gekürt wurden. Mit der Zunahme der Menschenkinder und der Abnahme der Wälder begannen die ersten Probleme. Wir mussten uns gewerkschaftlich organisieren, es gab ­Regeln und damit auch Verstösse. Da auch unsere Zahl zunahm, kam es zu Richtungskämpfen und Abspaltungen, die bis heute unser Dasein erschweren. Da gibt es die Ökofundis, die nur das Selbstgewachsene anerkennen. Haarwuchsbeschleuniger, Shampoos, Öle und ­Vitamine lehnen sie ab. Wer Hormone braucht, wird aus der Zunft verstossen. Dann gibt es die Fraktion der Perückenträger. Sie haben das frühere Leben ganz aufgegeben und gehen menschlichen Berufen nach. Natürlich gibt es wieder Untergruppen. Die einen akzeptieren nur Echthaare, ausnahmsweise auch Büffelhaare, andere stehen auf Kunstfasern, Imita­tionen, die je nach Preislage wiederum neue Begehrlichkeiten, Neid und Streit verursachen. Dazwischen arbeiten die Haarverlängerer. Sie mischen Stile und Materialien, tragen Tempelhaare aus Indien mit synthetischen Gemischen aus Proteinfibern, PVC, Modacryl oder Polyester, Hauptsache flammenresistent, was ein gutes Argument ist.
Die längste Zeit haben Kaiser und Könige uns nachgeahmt. Bärte waren ein Gütesiegel für Monarchen und hohe kirchliche Würdenträger bis in die jüngste Geschichte. Selbst Diktatoren sind nicht ohne Oberlippenbärtchen oder einen Schnauz aus­gekommen. Nur Mao und Mussolini kompensierten ihren Mangel mit Rasierwasser.
Politik und Moden gehen nicht spurlos an uns vorbei. Wer dem Propheten gleichen will, trägt Bart, ebenso wieder viele junge Männer, die ihre bedrohte Selbst­sicherheit aufmotzen wollen. Wir Samichläuse kommen in dieser neuen Welt nicht ungeschoren ­davon. Das Patriarchat der weiss wallenden Rauschebärte hat einen schweren Stand. Wir gelten als ­Symbol der Unterdrückung. Ein kettenrasselnder Schmutzli hat in der neuen Pädagogik nichts zu suchen. Traumatisierte Kinder und verschreckte Eltern überhäufen uns mit Strafklagen. Die Gewerkschaft der Chläuse muss darauf reagieren. Es begann mit der Ausmusterung aller Esel, da ihr Kot den Strassenverkehr behindert, und ­endete mit der Abschaffung der vertrauten Fitzen. Im Jutesack muss alles allergiefrei und kariesschonend sein. Ausbildungskurse für glutenfreie Lebkuchen und ungespritzte Mandarinen sind obligatorisch. Profes­sionelle Schauspieler und Fernsehansager gewöhnen uns die polternde Stimme ab. Die Stimmlage soll weniger tief sein, sie soll, väterlich geschmeidig, optimistische Botschaften und lobende Worte an die gestressten Kinder richten. Sprüche lernt niemand mehr auswendig, dafür lernen wir, auf den Selfies möglichst vorteilhaft auszusehen. Selten geschieht es, dass radikale ­Feministinnen oder religiöse Extremisten über uns herfallen und zwangsrasieren. Es kommt dem Skal­pieren nahe und ist die grösste Demütigung, die uns ­widerfahren kann. Die Opferhilfe St. Nikolaus nimmt sich der Betroffenen an, bis die Wunde nach vielen ­Monaten verheilt ist.
Demnächst gehe ich mit meinem alten Esel in den ­Ruhestand. Es gibt ein Heim für ausgemusterte Magier und Druiden. Dort werden wir uns endlos die alten Geschich­ten erzählen.
erhard.taverna[at]saez.ch