Zwei Rezensionen und ein Blick auf die Psychiatrie

Psychiatrische Diagnosen – ein Auslaufmodell?

Horizonte
Édition
2018/45
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.17291
Bull Med Suisses. 2018;99(45):1595-1597

Affiliations
Prof. Dr. med., Dr. phil., stv. Klinikdirektor, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Publié le 07.11.2018

Medizinisches Handeln setzt Denkmodelle um, die ­ihrerseits Veränderungen unterworfen sind. Auf die Psychiatrie trifft dies umso mehr zu, als ihre wissenschaftlichen Konzepte nicht nur methodisch besonders heterogen sind, sondern auch markant stärker von gesellschaftlich-normativen Rahmenbedingungen abhängen, als es etwa in operativen Fächern der Fall ist. Und so ist denn auch die psychiatrische Begriffsgeschichte geprägt von divergierenden Ansätzen, die sich jeweils irgendwo zwischen den Polen Hirnforschung, Hermeneutik und Sozialwissenschaft einordnen lassen. Regelmässig entstehen auf diese Weise grundsätzliche Debatten zum «Wesen» der Psychiatrie, aber auch Polemiken gegen etablierte Methoden, psychische Erkrankungen zu erkennen und zu behandeln. Ich erinnere an die Vehemenz der antipsychiatrischen Kritik in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Was ist das eigentlich, eine Diagnose?

Womit wir bei den Diagnosen wären: Bildet eine psychiatrische Diagnose, gleich einem Fotoapparat, die «dahinter» stehende Krankheit einfach ab? Zementiert sie in diesem Fall nicht ein unkritisches medizinisches Modell? Oder sind unsere Diagnosen begriffliche Konstrukte, die je nach wissenschaft­lichem Erkenntnisstand veränderbar sind und deren alleiniges Ziel es ist, eine reliable psychiatrische Terminologie zu etablieren? Oder sind sie gar, wie immer häufiger argumentiert wird, überflüssige Relikte einer vergangenen ­Epoche, die weder in der Patientenver­sorgung noch in der Forschung wirkliche Vorteile bringe­n, sondern, im Gegenteil, der Stigmatisierung psychisch Kranker Vorschub leisten und das wissenschaftliche Weiterdenken durch traditionalistisch enge Vorgaben hemmen?
«Denosologisierung» – dieser fast unaussprechbare Begriff fasst die Grundidee der heutigen Diagnose- und Nosologiekritik in der Psychiatrie zusammen: Weg von der Idee starrer, vorgegebener Krankheitseinheiten («die» Schizophrenie etwa), hin zu einer Psychiatrie, die sich an fluiden Zustandsbildern, also an Syndromen, orientiert und diese eben nicht als kategoriale Entitäten im Pathologischen ansiedelt, sondern dimensional zusammendenkt mit den Funktionen, die die menschliche Psyche, das Mentale, ganz generell charakterisieren, etwa Erinnern, Lernen, Affektregulation oder Kommunikation.

Unruhige Zeiten für das Fach Psychiatrie

Notabene: Die aktuelle Kritik an einer erstarrten, für moderne Forschungsmethoden nicht mehr anschlussfähigen Nosologie kommt vorwiegend – daher diese Rezensionen – aus dem Feld der Neurowissenschaften.
Das ist bemerkenswert, war doch zu Zeiten der Antipsychiatrie die, wie es damals hiess, «biologische Psych­iatrie» das Feindbild schlechthin: Sie betreibe eine unreflektierte Medikalisierung der Psychiatrie und vernachlässige mit ihren Krankheitsbegriffen, etwa «Schizophrenie», die psychologischen und sozialen Aspekte der erkrankten Person in sträflicher, ja skanda­löser Weise. Und doch gibt es hier Parallelen zwischen antipsychiatrischen und neurowissenschaftlichen ­Positionen, auch wenn die jeweilige Motivlage eine vollständig andere ist. Dies zeigt, wie bewegt die konzeptuellen Gewässer sind, in denen das Fach Psychiatrie heute segelt.
Die beiden vorzustellenden Bücher sind Teile dieser Debatte: Bei Andreas Heinz geht es um die Zukunft der Psychiatrie als wissenschaftliches Fach schlechthin; Ludger Tebartz van Elst diskutiert ein einzelnes Krankheits­konzept, dasjenige der Schizophrenie, um mit ähnlicher, aber nicht gleicher Stossrichtung wie Andre­as Heinz geradewegs für die Abschaffung dieses ­Begriffes zu plädieren.

Andreas Heinz – A New Understanding of Mental Disorders

Andreas Heinz
A New Understanding of Mental Disorders
Computational Mo­dels for Dimensional Psychiatry
Cambridge MA:
The MIT Press; 2017.
224 Seiten
ISBN 978-0-26-203689-4
Andreas Heinz entwirft das Grundgerüst für ein neues Verständnis psychischer Störungen und stützt sich ­dabei dezidiert auf neurowissenschaftliche State-of-the-art-Ansätze für die Erfassung und mathematisch-statistische Modellierung von Daten («computational psychiatry»). Er votiert für ein dimensionales Verständnis psychischer Phänomene. In nosologischer Hinsicht steht ein solches Konzept in markantem Gegensatz zur Behauptung der Existenz distinkter «natürlicher psychiatrischer Krankheitseinheiten», also biologisch vorgegebener Kategorien, wie sie etwa Emil Kraepelin mit Nachdruck aufgestellt hatte.
Der Autor eröffnet das Feld geschickt mit einem drastischen Widerspruch: Die heutige psychiatrische Forschung sei «beeindruckend erfolgreich» – und stecke zugleich «in einer Krise». Der Erfolg bestehe im enormen Zuwachs an neurowissenschaftlichen Befunden zur Funktionsweise des Gehirns, vor allem was die Schnittstelle von neuronalen Netzwerken und Verhalten angehe. In einer Krise befinde sie sich, weil zunehmend gefragt werde, ob tradierte diagnostische Kategorien überhaupt als Grundlage für die psychiatrische Forschung taugten – oder diese nicht eher behinderten, ja in eine Sackgasse führten. Heinz schlägt vor, die Stossrichtung grundlegend zu ändern und nicht mehr von klassischen Krankheitseinheiten (etwa von «der» Schizophrenie) auszugehen und nach deren biologischen Grundlagen zu suchen, sondern allgemeine Funktionsprinzipien der Psyche, speziell basale Lernmechanismen, auf ihre Bedeutung für psychische ­Störungen zu untersuchen, und zwar konsequent über gewohnte diagnostische Grenzen hinweg.
Anschaulich erläutert der Autor die heute bekannten komplexen Zusammenhänge zwischen Lernvorgängen, Entscheidungsfindungsprozessen und Neurotrans­mission. Dabei bezieht er klinische Beispiele ebenso ein wie aktuelle wissenschaftliche Befunde. Prägnant ­arbeitet er, angereichert durch psychiatriehistorische Verweise, den Nutzen, aber auch die Tücken eines evolutionären Verständnisses psychischer Störungen ­heraus. Schliesslich diskutiert er das Hauptanliegen seines Buches, die Frage nämlich, unter welchen Voraussetzungen die enorme Datenmenge, die in der ­heutigen Forschung anfällt, mit computergestützten Verfahren so bearbeitet werden kann, dass neues Wissen und erst noch ein klinischer Nutzen entstehen.
Mich beeindruckt, dass der Autor, selbst anerkannter Neurowissenschafter, immer wieder betont, dass der neurobiologische Zugang, so wichtig er sei, die Bedeutung des subjektiven und sozialen Raumes keineswegs verringere oder gar ersetze. Die Psychiatrie habe die enorme Diversität menschlichen Erlebens und Verhaltens zu respektieren und jede voreilige Pathologisierung zu unterlassen. Die Gesundheit des Individuums geniesse Vorrang. Sie werde aber wesentlich von der betroffenen Person selbst bewertet und dürfe nicht ausschliesslich den Algorithmen unserer Diagnosemanua­le oder vermeintlich naturgegebenen evolutionsbiologischen Zielvorstellungen, wie «man» zu sein und zu lebe­n habe, unterworfen werden. Trotz seines umfassenden Anspruches – eben «ein neues Verständnis psychischer Störungen» – ist der Text durchgehend frei von unkritischer Selbstgewissheit. Er begegnet dem Thema und den Menschen, um die es geht, mit ­Respekt und einer, wie ich finde, seltenen neugierigen Zurückhaltung, die psychiatrischen Theorien stets sehr guttut.
Fazit: Ein Beispiel von methoden- und selbstkritischer Wissenschaft – anregend und empfehlenswert, nicht nur für psychiatrische Berufsleute!

Ludger Tebartz van Elst –
Vom Anfang und Ende der Schizophrenie

Ludger Tebartz van Elst
Vom Anfang und Ende der Schizophrenie
Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizophrenie-Konzept
Stuttgart: Kohlhammer; 2017.
254 Seiten
ISBN 978-3-17-031258-6
«Für wissenschaftliche Verhältnisse ein ganz schön dramatischer Titel» – werden Sie denken. Aber immerhin geht es um die grundsätzliche Infragestellung ­eines seit über 100 Jahren zentralen Krankheitsbegriffes der Psychiatrie. Nun ist «Schizophrenie» vor allem für Zürcher Psychiater/innen nicht irgendein Terminus: Geprägt wurde er von Eugen Bleuler, Klinikdirektor am Burghölzli von 1898 bis 1927, der ihn 1908 der Fachöffentlichkeit vorstellte. Aber so verblüffend rasch er sich damals weltweit verbreiten konnte, so beharrlich sind heute die kritischen Stimmen: Der Begriff sei nach wie vor enorm stigmatisierend, seine Validität sei mehr als fraglich, und er zwinge die Forschung in ein überholtes Denken in Krankheitseinheiten. Dabei betont Tebartz van Elst so häufig, dass es schon apolo­getisch wirkt, es gehe ihm bei seiner Kritik nicht etwa um antipsychia­trischen Fundamentalismus, sondern um eine kon­struktive forschungsfördernde Debatte.
Er beleuchtet den Begriff «Schizophrenie» aus zahl­reichen Perspektiven: Geschichte, klinischer Verlauf, Definitionsversuche von «psychischer Störung» überhaupt, Hypothesen zur Verursachung schizophrener Psychosen und schliesslich die von ihm vertretene «Neuropsychiatrie schizophrener Syndrome». Einige dieser Syndrome – aber eben nicht «die Schizophrenie» – könne man schon heute definierten somatischen Dysfunktionen zuordnen (etwa im Kontext einer akuten intermittierenden Porphyrie). Andere seien zwar noch immer «primär-idiopathischer» Natur, aber sehr wohl oder erst recht neuropsychiatrisch zu erforschen. Vor diesem Hintergrund, so sein Fazit, brauche es den Begriff Schizophrenie in Zukunft definitiv nicht mehr; er sei weder durch einen anderen Terminus zu ersetzen, noch könne er durch eine dimensionale Perspektive gerettet werden – er sei abzuschaffen.
Und hier liegt nun ein kritischer Punkt: Unbestreitbar ist, dass der Schizophreniebegriff (auch am Ort seiner Entstehung!) kritisch beleuchtet werden muss, gerade hinsichtlich seiner Kompatibilität mit modernen Forschungsansätzen. Der Autor lässt allerdings die Chance aus, den Facettenreichtum des anthro­pologischen Phänomens «Psychose» umfassend auszuleuchten. Zwar hebt er hervor, dass psychotisches Erleben keineswegs eo ipso krankhaft sein müsse, sondern im Einzelfall als Ausdruck einer – nicht behandlungsbedürftigen – Normvariante zu verstehen sei. Doch ist seine Sichtweise eingebettet in eine­n konsequenten Naturalismus: «Psychische Sym­ptome sind körperliche Symptome.» Die Medizin wird dabei scharf abgegrenzt von den, wie es heute heisst, Humanities: «Der ärztliche Blick ist ein gänzlich anderer als der soziologisch-­philosophische.» Ist er das wirklich? Der Autor lässt qualitativen Aspekten, etwa im Sinne einer phänomenologischen Psychopatho­logie, wenig Raum, und die aktuelle Frage, wie neurowissenschaftliche Parameter überzeugend mit einem personzentrierten Rahmen verknüpft werden können, bleibt offen.
Fazit: Wer in Sachen Schizophrenie mitreden möchte, sollte die Argumentationslinie dieses Buches kennen, auch wenn er oder sie dem Autor in manchem Punkt nicht folgen mag. Denn die von ihm vertretene Position wird zukünftig zwar nicht die einzige sein, wenn es um die Zukunft des Schizophreniebegriffes geht, wohl aber eine einflussreiche.

Was haben beide Bücher mit der Identität der Psychiatrie zu tun?

Viel.
Sie tun das, was die Psychiatrie immer wieder neu zu leisten hat, nämlich ihr Fundament zu benennen, es eingebettet in den jeweiligen wissenschaftlichen Erkennt­nisstand zu reflektieren und nötigenfalls an­zupassen: Wie können wir die Interdependenz psy­chischer, biologischer und sozialer Phänomene vertiefter verstehen? Welche Rolle wird Personalität im Zeitalter von computational psychiatry, network psychiatry und big data spielen? Ein bloss additives «bio-­psycho-soziales Modell», so viel ist klar, reicht für die Beantwortung dieser Fragen nicht mehr aus. Was wir brauchen, ist eine kritische, aber nicht polemische ­Debatte. Genau hier, im undogmatischen, nachhal­tigen und methodenkritischen Weiterdenken unserer Konzepte, liegt die Zukunftsfähigkeit unseres Faches begründet.
Zur Eingangsfrage: Nein, psychiatrische Diagnosen sind kein Auslaufmodell. Aber sie und die «hinter» ihnen stehenden Krankheitsbegriffe sind eben auch nicht in Stein gemeisselt. Unsere zukünftige Diagnostik kann und wird von neurowissenschaftlichen Befunden, von einer betont dimensionalen Perspektive und vom Einsatz elaborierter mathematischer Modelle wesentlich profitieren. Doch ist dies keineswegs gleichbedeutend mit einer Absage an eine personzentrierte Psycho­pathologie, für die Subjektivität, Autonomie und Interpersonalität tragende Elemente darstellen. Letztere stehen weder in unversöhnlichem Gegensatz zu neuro­wissenschaftlichen Ansätzen, noch können sie durch diese ersetzt werden.
Zugegeben: All diese Spannungsfelder zu erkennen und klug in die eigene psychiatrische Tätigkeit zu integrieren, sei es in Klinik, Forschung oder Lehre, ist eine beträchtliche Herausforderung. Genau das aber macht die Psychiatrie zu einem so spannenden medizinischen Fach.
paul.hoff[at]puk.zh.ch