Vernetzte Gedanken und Assoziationen zur Entwicklung der hausärztlichen Medizin

Medizin und Alter – die Landarztpraxis zwischen analog und digital

Horizonte
Édition
2018/39
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.17058
Bull Med Suisses. 2018;99(39):1336-1338

Affiliations
Dr. med., Landarzt in Grabs im St. Galler Rheintal, Mitglied FMH

Publié le 26.09.2018

Nach welchen Kriterien soll die Arbeitsfähigkeit eines Menschen, auch eines ­Arztes, speziell auf Grund des Alters festgelegt werden? Eine Publikation [1] im New England Journal of Medicine hat zum Nachdenken angeregt. Ältere Menschen bewegen sich langsamer, denken langsamer – aber vielleicht gerade deswegen anders, bedacht. Sie haben andere Fertigkeiten gelernt, vielleicht erfassen sie damit beobachtend mehr Zusammenhänge. Welche Qualitätskriterien sind messbar?

Arbeit als Alzheimerprophylaxe?

Es gibt nichts Abwechslungsreicheres als die medizinische Arbeit mit Menschen auf dem Land. Arbeit ist die beste Alzheimerprophylaxe. Als Landarzt arbeite ich mit über 70 Jahren, vom Staat deswegen mental kon­trolliert, sogar noch ein bisschen wissenschaftlich. Auch das wissenschaftliche Denken ist altersabhängig. Man bewegt sich nicht nur physisch etwas langsamer. Als Qualitätsmerkmal eines Resultates wird die Geschwindigkeit weniger wichtig beurteilt, dafür vermehrt die Zusammenhänge interdisziplinär, transdisziplinär, beispielsweise die sozialen Auswirkungen. Bezüglich Zeit sind kontinuierliche standardisierte vergleichbare Langzeitresultate wichtiger, in der Epidemiologie wie beim individuellen Patienten.
Für die optimale Therapie ist jeder Arzt auf Daten angewiesen. Die Anamnese ist immer noch das Wichtigste. Die weder analog noch digital gespeicherte Krankengeschichte des Patienten in seinem Umfeld und «im Hausarzt» ist wichtig. Zusammengefasst: Der Hausarzt «kennt» seinen Patienten. Auch dies kann mitunter zu Überschätzungen führen.
Natürlich braucht auch der Hausarzt konservierte ­Dokumente seiner Patienten. Betagte Hausärzte benutzen oft die analoge Form. Die nicht gestellte, spontane Abbildung zeigt die analoge Dokumentation, teilweise über 40 Jahre umfassend (siehe Foto auf der nächsten Seite). Für die Digitalisierung lohnt sich der Aufwand nicht. Manche Informationen gehen verloren. Dafür ist die Vertraulichkeit optimaler ge­sichert. Die «Real-Time»-Übermittlung von Daten ist jedoch erschwert. Analoge Briefe und Fax erreichen das Tablet des Assistenten bei Visiten nicht mehr. Die banale medi­zinische Kommunikation wird erschwert. Die Sicherheit der Vertraulichkeit ist trotz aller elektronischer Massnahmen nicht möglich: Irrläufer empfange ich häufig. Jede Datenwolke regnet nicht immer dort, wo sie sollte (Panama). Niemand weiss, wer unsere Daten mitbenutzt. Das Risiko, dass sie eher zum Schaden von Versicherten benutzt werden, ist gross!

Relevanz und Sicherheit

Real-Time-Daten entsprechen einem Bedürfnis elektronisch vernetzter Konsumenten. Für sie ist wichtig, ­etwas sofort zu wissen. Die Relevanz oder die Sicherheit gilt als ein weniger wichtiges Kriterium. Eine logische Konsequenz des «sofort» wäre, alles am besten in der Praxis durchzuführen, also beispielsweise auch Labor, Bildgebung. Technologisch können Kosten durch Automaten gesenkt werden. Die Landarztpraxis ist aber nur sehr beschränkt automatisierbar. Das ist logistisch nicht möglich, weil Apparate und Personal dazu fehlen. Diese klinischen Befunde, Labor, Bildgebung sind für eine gesicherte Diagnose auch notwendig. Ande­rerseits hatten wir die Palpation, Auskultation, sogar die Perkussion gelernt. Sie stehen nur uns, aber keiner Telemedizin zur Verfügung. Die Semiotik, die Blickdiagnose, die nicht verbale Kommunikation ist für uns viel wichtiger als irgendwelche Guidelines. Im Notfall bewirken Laboruntersuchungen und Bildgebungen mitunter sogar gefährliche Zeitverzögerungen. Wie Apotheker Public-Health-Aufgaben übernehmen, ist unklar. Früher verhinderten sie sehr erfolgreich die ­Finanzierung der Impfungen. Heute wird die Situation mit Allergien entsprechend kommerziell adaptiert. Die Rezeptur von Steroiden und der Verkauf von Hyposensibilisierungen werden kommerzialisiert.

Gesundheit ist keine Ware

Marktwirtschaftliche Gesetze sind in der Medizin nur sehr beschränkt anwendbar. Die Gesundheit ist immer noch ein Geschenk der Natur und nicht eine Ware, die man gemäss Angebot und Nachfrage regeln kann. Die meisten Menschen werden krank. Die wenigsten können sich ihre Krankheit auswählen, nicht einmal Raucher, selbst wenn Ökonomen im Gesundheitswesen das Gegenteil behaupten (Begründung für Franchisen).
Soziologisch funktionieren sie auch nicht: Man möchte weltweit die Migration vermeiden, interstaatlich spe­ziell «Wirtschaftsflüchtlinge». Bezüglich Binnenmigration sollte die Verstädterung vermieden werden. Beides korreliert klar invers mit der Solidarität. Diese wird heute politisch weltweit reduziert. Die Solidarität aber kostet aktuell, die Entsolidarisierung bezahlen künftige Generationen.
Konsumenten fordern Untersuchungen zur Prognose, auch der Medizin. Doch welche Prognose ist real machbar (z.B. Wetterprognose, Pollenprognose)? Für die ­Adaptation der Menschen an den Klimawandel sind sie völlig irrelevant. Dazu bräuchten wir solide Langzeitmessungen, sowohl der Prävalenz in Populationen wie der Immissionen.
Das Bedürfnis nach relevanten Daten für die individuelle Langzeitprognose, zum Beispiel die Lebenserwartung, ist merkwürdig. Hier ist das Geschenk des Nicht-Wissens wesentlich, das man früher als Hoffnung bezeichnete. Was würden Sie tun, wenn Sie wüssten, in 2 Jahren sind Sie tot, mit oder ohne Medizin. Mit dem Alter wird das sichere Wissen der eigenen Endlichkeit im Vergleich zur Jugend generell quantitativ konti­nuierlich grösser. Aus Jahrzehnten werden Jahre. Die Modalität dieser Jahrzehnte, die individuelle Lebensqualität, ist nicht gesichert berechenbar (Leben zu Hause oder im Pflegeheim, offensichtlich dement, inkontinent, mit Schmerzen usw.).
Eine Landarztpraxis zwischen analog und digital. Im Vordergrund die «Krankengeschichten», vorbereitet für die vereinbarten Konsultationen des 4.12.2017. Mit einer Ausnahme (allergologische Abklärung) handelt es sich um sogenannte «Gümmeli-KG». Ohne diese Gummiringe würden sie auseinanderfallen. Bei den meisten handelt es sich nicht um den ersten «Band» dieser individuellen Geschichten. Viele haben weitere «Bände» im Archiv gelagert. Der bescheidene PC ersetzt die Sekretärin und genügt für wissenschaftliche Arbeiten. Die Kerze («Advent») kontrastiert das technologische Licht einer OP-Lampe. Inzwischen ist Pfingsten schon vorbei, das christliche Fest der Verständigung («Lichter über Köpfen»).

Denken ist mehr als die Summe von Algorithmen

Die Medizin ist eine Wissenschaft, weil sie systematisch nach Wissen sucht – aber sie tut dies auch heute nicht ausschliesslich. Denken ist mehr als eine Summe von Algorithmen, obwohl wir viele dazu oft unbewusst benutzen. Erkenntnisse, Ideen beginnen meist sprunghaft, als Gedankenblitz. Arzt sein sollte noch mehr sein, eine Kunst. Obwohl jeder ahnt, was Kunst sein könnte, ist der Begriff weder etymologisch noch aktuell wertmässig definierbar. Ursprünglich verstand man darunter wohl etwas können. Es gibt Künstler, die im Alter von über 100 Jahren noch Gutes tun können. Welche Gedächtnisleistung beim alten Arzt ist massgebend für seine Arbeitstauglichkeit? – Wie viel «Alzheimer» ist noch tolerabel?
Der limitierende Faktor für jede Aufgabe ist die Kunst, seine Grenzenzu kennen, zu spüren und zu akzeptieren (γνῶθι σεαυτόν – «Erkenne dich selbst», über dem Orakel von Delphi). Dies bedingt ein hohes Mass an Selbstverantwortung und stellt hohe Anforderungen an die persönliche Ethik. Früher nannte man dies Charakter. Diese Kunst ist sehr schlecht messbar – für sich selbst wie für andere.

Verlust von Vertrauen

In der Eid-Genossenschaft der Helvetier, der «Confoe­deratio Helvetica» (CH) kenne ich keine Ärzte, die einen Eid geschworen haben, Patienten nach bestem Wissen und Gewissen zu behandeln. Alle, die ich kenne, handeln aber grosso modo entsprechend, einige machen mehr oder weniger Kompromisse bezüglich Wirtschaftlichkeit oder Wissen. Manchmal sind andere Zwänge (Abhängigkeiten vom Arbeitgeber, Macht, Ehrgeiz, Liebe) massgebend.
Im christlichen Abendland haben die meisten Politiker einen Eid geschworen oder angelobt, ihr Wort gegeben, sich für die (Eid-)Genossenschaft oder Repu­blik (res publi­ca,das Gemeinwohl) einzusetzen. So nebenbei trifft dies heute sogar für Trump und Putin zu. Wie bei eine­m Eheversprechen gilt auch im Christentum das Wort (Johannes 1,1) heute immer weniger. Wer ein Wort bricht, verliert Vertrauen. Vielleicht ist dies das Hauptproblem unserer Gesellschaft, der zunehmende Verlust von Vertrauen. Stehst du zu deinem Wort, wie viel Wert gilt dein Versprechen, damit auch andere dir vertrauen? Kurzfristig sind Täuschungen nützlich, langfristig enttäuschend gefährlich. Kredit kostet.

Solidarität

Was die Solidarität wäre, wüsste jeder. Das Gleichnis vom barmherzigenSamariter, beschrieben vom Arzt Lukas (Lukas 10,30–35) ist bekannt. Das Christentum beginnt mit der Steuerpolitik (Weihnachten) zur Finanzierung der Aussenpolitik, der Expansion der damaligen Weltmacht (Rom) nach Osten! – Langfristig ergab sich ein Fiasko, nicht nur in jener Region! Allerdings trägt dafür nicht die Bibel, die Religion die Schuld, sondern, wie in der Schrift beschrieben, der Geist von «Schriftgelehrten», Dogmatikern und Kirchenrechtlern. Dies gilt für alle Religionen in gleicher Weise, die dort fundamentalistisch begründet politisch Elend ­erzeugen.
Für manche Politiker ist es einfach. Wenn man selbst keine Verantwortung übernehmen will, überlässt man ein gesellschaftliches Problem der Selbstverantwortung der Bürger oder der liberalen Marktwirtschaft. Rauchen, Alkoholverkauf auf Autobahnen, Süssgetränke, risikoreicher Sport usw. Man könnte dies steuern über Steuern, was gesundheitspolitisch sinnvoll wäre.
Wissen ist nicht harmlos, vor allem wenn bekannt wird, was man wusste. Pränatal genetisch gescreente Kinder, aber auch «dicke», rauchende Jugendliche sind nur mehr obligatorisch zuverlässig versicherbar. Ver­sicherungen lehnen zusätzliche Risiken ab. Niemand versichert ein brennendes Haus. Wer sein Risiko nicht deklariert, bezahlt zwar weniger Prämien, im Schadenfall erhält er aber gar keine Leistung! Das dürfte auch für Gesundheits-Apps und genetische Untersuchungen gelten, welche angeboten werden.

Die Gesundheit des Arztes

Wie gesund muss ein Arzt sein? Welche Vergesslichkeit ist altersgemäss tolerabel? Wer soll dies entscheiden? Obligatorische Checks ab 60? Oder Pensionierung mit 65 Jahren? Was erträgt die Solidarität der ärztlichen Versorgung in unserer Eidgenossenschaft? Im Sargan­serland sind 67% der Hausärzte über 55 Jahre alt. Wer ist telemedizinisch ersetzbar?
Früher waren Ärzte (speziell auf dem Land) Individualisten. Ihre Fähigkeiten waren der Bevölkerung bestens bekannt. Heute wird spezialisiert, normiert. Nur normiertes Denken ist messbar. Ob man damit aber das Wesentliche und nicht nur Akzidentien (wie Apparate bedienen) misst, will niemand wissen. – Was ist denn ein guter Arzt? – Ein Spezialist sollte hausärztliche Funktionen kennen und übernehmen, dasselbe auch umgekehrt!
Natürlich werde auch ich nächstens meine Praxis schliessen. Mit der Zeit rentiert es einfach nicht mehr. Die Notfallmedikamente (Selbstdispensation) verfallen. Die neuen Tarife, die Fragen von Versicherungen – wie viel Zeit für wen: Statistik oder Patient – wirken ­demotivierend, sogar bei jüngeren Ärzten. Meine Pa­tienten werden auch älter, polymorbider. Vorschriften nehmen zu, vielleicht sogar Ansprüche einzelner Patienten (heute Kunden), wenn auch sicher nicht aller. Forderungen von Konsumenten muss man nicht erfüllen, jene von Patienten schon, wenn sie berechtigt sind, sogar wenn sie Prämien nicht bezahlen (können).
Irgendwann ist es aber einfach genug.
Dr. med. Markus Gassner
Landarzt und Allergologe
Spitalstr. 8
CH-9472 Grabs
m.gassner[at]hin.ch
1 Davi G. Alzheimer’s Disease in Physicians – Assessing Professional Competence and Tempering Stigma. NEJM. 2018;378:1073–5.