Baumol'sche Kostenkrankheit – Warnung vor voreiliegen Schlüssen

Briefe / Mitteilungen
Édition
2018/32
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06952
Bull Med Suisses. 2018;99(32):1017

Publié le 07.08.2018

Baumol’sche Kostenkrankheit – ­Warnung vor voreiligen Schlüssen

Theorien sind Erklärungsversuche für praktische Phänomene. Wer unter diesem Aspekt die Theorie der Baumol’schen Kostenkrankheit näher studiert, wird zumindest zwei Einwände vorbringen.
I. Die Theorie besagt, dass die Kosten für den sogenannt stagnierenden Sektor, der vor allem die personenbezogenen Dienstleistungen umfasst, gegenüber dem progressiven steigen müssen. Es ist naheliegend, dass die Zeit im Gesundheitswesen ein unvermeidbar entscheidender Faktor bleiben wird. Doch zu ­argumentieren, die Zeitkosten seien – wie beispielsweise beim Friseur – quasi allein für die Gesundheitskostensteigerung verantwortlich, geht an der Realität vorbei; denn dann werden die teure moderne Technologie, die exzessiven Medikamentenpreise, die wachsende ältere Bevölkerung und die Mengenausweitung durch systemimmanente falsche Anreize vernachlässigt. Selbst der Faktor Zeit ist in der Medizin nur relativ stabil, indem im heutigen praktischen Alltag viele Tätigkeiten durchaus beschleunigt werden konnten wie z.B. Laborbestimmungen. Zudem hat die unproduktive Administration massiv zugenommen.
II. Es haben in der Schweiz die relativen Haushaltskosten für Konsumgüter in den letzten fünfzig Jahren dramatisch abgenommen. Das ist selbstverständlich richtig; falsch ist hin­gegen die Erklärung, dass dies alleine auf ­erhöhte Produktivität zurückzuführen ist. Unsere Kleider sind vor allem deshalb so günstig, weil sie in Billiglohnländern produziert werden. Unsere elektronischen Geräte sind für uns so leicht erschwinglich, weil die dazu notwendigen Rohstoffe und die Arbeiter schlecht bezahlt werden. Der erfolgreiche Preisdruck auf unsere Nahrungsmittel hat zu Massenproduktion ohne Rücksicht auf die Natur und das Einkommen der Bauern geführt. Der Produktionsfortschritt nimmt weltweite Transporte von Gütern in Kauf mit kaum messbaren Auswirkungen für die Umwelt.
Es ist verständlich, dass in einer vor fünfzig Jahren aufgestellten Theorie diese Aspekte kaum gewichtet wurden. Aber es ist gefährlich, aus solchen Theorien einfache Schlüsse zu ziehen, die man so zusammenfassen könnte: Kein Grund zur Beunruhigung! Es gibt doch einige Argumente, die für ein aktives Engagement der Ärzteschaft in der Bekämpfung der steigenden Gesundheitskosten sprechen.
1. Die Gesundheitskosten stellen für die Bevölkerung ein praktisches Problem dar. Das kann keine Theorie überzeugend widerlegen. Wenn wir als Ärzteschaft die Menschen ernst nehmen, dann müssen wir auf ihre Klagen über die Kosten hören. Es ist wie bei den Schmerzen. Es nützt nichts, wenn wir das Leiden relativieren.
2. Die Diskussion um die Gesundheitskosten kommt nie um ethische Fragen herum. Insbesondere geht es um die gerechte Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Wer zulasten von minderprivilegierten Ländern Profit macht und im eigenen Land das hohe Lied ­einer Maximalmedizin für alle singt, muss sich in einer Zeit der Globalisierung den Vorwurf fehlender Moral gefallen lassen. Die Baumol’sche Theorie und die Interpretationen von J. Schlup klammern diese Aspekte aus.
3. Die Finanzierung unseres Gesundheits­wesens basiert im Wesentlichen auf dem Solidaritätsprinzip, in dem die Gesunden, in der ­Regel Jungen, für die Kranken, mehrheitlich Alten, bezahlen. Es zeigt damit Ähnlichkeiten mit der AHV. Das funktioniert so lange gut, wie der Überschuss der Gesunden die Mehrkosten der Kranken deckt. Die absehbare Entwicklung unserer Bevölkerung wird dazu führen, dass die Zahl der Netto-Nehmer steigt, während die der Netto-Geber abnimmt. Wer mit Hilfe veralteter Theorien die ungebremste Kostenentwicklung im Gesundheitswesen in Kauf nimmt, mutet der nächsten Generation eine untragbare Last zu. Die aktuelle Diskussion um die Finanzierung der AHV ist da wahrscheinlich nur ein fader Vorgeschmack.
Ich warne vor unkritischen Schlüssen aus der Theorie der Baumol’schen Kostenkrankheit. Statt damit Passivität in der schwierigen Diskussion um die besorgniserregende Gesundheitskostensteigerung zu rechtfertigen, täte die Ärzteschaft gut daran, sich proaktiv und praktisch für eine gerechte, nachhaltige, ja vielleicht auch beschränkte Verteilung des Allgemeingutes Medizin einzusetzen.