Suchen nach etwas Höherem

Briefe / Mitteilungen
Édition
2018/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06784
Bull Med Suisses. 2018;99(22):708

Publié le 30.05.2018

Suchen nach etwas Höherem

Es soll gemäss dem Artikel von Piet van Spijk ein neues Menschenbild «für die Medizin» gesucht werden. Es darf angenommen werden, dass es für verschiedene Gruppen verschiedene Menschenbilder geben muss. So verwenden Mathematiker und Physiker, Mediziner, Primarschullehrer, Europäer, Asiaten und Afri­kaner je andere Menschenbilder, die zum Teil gleichberechtigt sind und zueinander in Symmetrie stehen. Es erstaunt, dass der Autor des genannten Beitrages das seit undenk­lichen Zeiten unerträglich oft erwähnte, angeblich falsche Menschenbild von Descartes erwähnt. Das damalige Menschenbild von ­Descartes ist jenes eines Genies, der sich als Katholik trotz der Nachstellungen durch die Glaubenskongregation getraute, menschliche Eigenschaften abstrakt darzustellen und damit eng definierte Begrifflichkeiten zu schaffen (das denkende Es und das räumliche Es). Gerade solch klare Begrifflichkeiten sind im heutigen Narrativ oder Geschwätz in Gefahr unterzugehen.
Was bei Descartes philosophisch als Trennung von Körper und Geist und noch immer als Dua­lismus interpretiert wird, gibt mehr Auskunft über die frakturierte Denkweise unzähligster Interpreten als über die Denkweise von Descartes. Dabei geht völlig unter, dass er seit Platon wahrscheinlich zu den ersten genialen Denkern gehörte, die versucht hatten, das seit Aristoteles allgemein gültige Dualitätsprinzip zu überwinden. Seiner Zerlegung oder Ab­straktion von Eigenschaften verdanken wir zu einem grossen Teil die sprachlichen Begriffsfassungen und Definitionen in den Naturwissenschaften, was von Platon bemängelt worden war. Doch Descartes’ Methode war nicht die Trennung allein, sondern im Gegenteil das anschliessende Zusammenführen der ­Abstraktionen zu einem ganzheitlichen Verständnis, woraus unter anderem das Koordinatensystem resultierte. Dank diesem (und der Weiterentwicklung durch Leibnitz und Newton) sind wir heute in der Lage, z.B. Bewegung als Graph bildhaft verständlich dar­zustellen. Auch dies hatte Platon an den ­damaligen Mathematikern als Mangel aus philosophischer Sicht erwähnt. Um solche Trennungen in Eigenschaften wird auch ein «neues Menschenbild» zu seiner synthetischen Beschreibung nicht herumkommen. Entscheidend ist jedoch, solche Eigenschaften in ihren Beziehungen zueinander nachzuweisen und in Worten zu synthetisieren.
Ein neues Menschenbild kann sich nicht am Schreibtisch allein entfalten. Wenn Herr van Spjik wörtlich schreibt «Menschen haben auch keine Seele» (wie er dies auch immer gemeint haben mag) oder in einem kürzlich in der Ärztezeitung erschienenen Artikel von ­einem Mitglied der Ethikkommission offensichtlich mit Wahrheitsanspruch geschrieben wurde, es gäbe «philosophisch keine Freiheit», so schafft Ersteres sowohl sprachlich als auch inhaltlich nur Unverständnis, wogegen die Bemerkung des Letzteren als abgehoben und alltagsfremd gelten muss. Die Leugnung der Ja-Nein-Freiheit schafft im Innersten die Philosophie des Philosophen ab, das «Nicht-Haben» der Seele erschwert den Glauben an etwas Höheres an sich und beraubt den Menschen des Suchens nach etwas Höherem. Das Suchen nach etwas Höherem, nach neuem Sinn und Zweck, die Informationsverarbeitung als Teil des anthropischen Prinzips, die grossartige Ja-Nein-Freiheit und die Fähigkeit des Menschen, als einziges Lebewesen Ver­antwortung für unseren Planeten zu übernehmen, müssen die Leitlinien bilden auf der Suche nach einem neuen medizinischen Menschenbild.