Das Schiff

Horizonte
Édition
2018/25
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06724
Bull Med Suisses. 2018;99(25):951

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 20.06.2018

Die offizielle Führung beginnt mit einer Besichtigung der neobyzantinischen St. Sava Kathedrale. Aussen ist der Bau abgeschlossen, im Inneren wird seit achtzig Jahren mit Unterbrüchen gebaut. Die Zäsuren stehen für Kriege und Fremdherrschaft. Vorübergehend Munitionsdepot der Wehrmacht, dann Zirkushalle, bis Putins Gazprom das Mosaik der Kuppel finanzierte. Neu-Belgrad besteht aus riesigen Wohnblöcken auf dem ehemaligen Sumpfgebiet links der Save. Tito hat hier die Staatsführer der Blockfreien zusammengerufen. Verstopfte Strassen unter einem grauen Himmel. Vor dem Parlament ein langes, weisses Banner mit Fotos meist junger Männer: «Opfer albanischer Terroristen und der NATO Aggression.» Deutsche, Israelis und Saudis bauen beidseits der Save. Die ausgebrannten Ruinen des Kriegsministeriums bleiben wie ein Mahnmal unverändert. Obligat ist ein Besuch der Festung über dem Zusammenfluss von Save und Donau. Stets Grenze zum Balkan, Frontlinie, europäische Randzone. Im Festungsgraben rostet das Kriegsgerät mehrerer Genera­tionen. Eine Rakete soll ein NATO-Flugzeug abgeschossen haben. Neu neben alt, Mythen und Fakten, alte und neue Wunden, offene Rechnungen, Traumland. Serbien, Fata Morgana eines vermeintlich dritten Weges und Kulisse einiger Karl May-Filme Filme. Man kann eine Stadt nur als Fussgänger lesen. Je weiter die Reise geht, desto mehr drückt die hässliche Zeit des Ostblocks durch die Kulissen.
Das Schiff gleitet lautlos donauabwärts dem Eisernen Tor entgegen. Einmal eine Enge mit gefährlichen Stromschnellen, Aufmarschgebiet von Trajans Legionen, Brückenkopf zu Dakien, dem heutigen Rumänien. Ein Stausee mit Schleusen hat den Schrecken gewinnbringend in elektrischen Strom verwandelt. Er verbindet die Anrainer Serbien und Rumänien. Eine Tafel ­erinnert an den römischen Caesar. Nikola Tesla (1856–1943) hätte auch einen Hinweis verdient. Ohne seinen Wechselstrom würden die Turbinen nicht funktio­nieren. Ein Tesla Museum in Belgrad erinnert an «den grössten Sohn Serbiens» obwohl der Kroatisch-Amerikaner nur einen einzigen Tag im Heimatland seines Vaters verbrachte. Auch das Schiff profitiert von seinen Erfindungen wie Radar, Neonlicht und Mikrowelle. Er pflegte einen extravaganten Lebensstil, das luxuriöse Leben auf dem Kabinenschiff hätte ihm gefallen.
Mittelpunkt der Seniorenresidenz sind das üppige ­Essen und Trinken, serviert von einer multinationalen Kellnerschaft. Zufällig aufgeschnappte Gespräche der Bordbewohner verraten wenig Interesse an der komplexen und blutigen Balkanrealität, obwohl sich die Reiseleitung Mühe gibt, zumindest ansatzweise, die Rolle der alten Grossmächte der Byantiner, Osmanen und Habsburger zu erklären. Es scheint, dass Helveter lieber selber den Einheimischen ihr Land erklären, wenn sie nicht am Jassen sind, Mails versenden oder gegenseitig mit ihren Reiseabenteuern auftrumpfen. Backbord und Steuerbord weites, menschenleeres Land, grün bewaldete Uferböschungen, Baumreihen im Wasser des hochgehenden Flusses. Nachts begleiten das Schlürfen und Gurgeln der Bugwellen den Schlaf. Vier Hauptstädte, Wien, Budapest, Belgrad und Bukarest, Fahrten ins Hinterland und schliesslich Ankunft im Delta, das, trotz Sonne, vergeblich auf die Ankunft der Pelikane wartet. Ein Labyrinth von Wasserstrassen und Urwald für dessen Erweiterung die Donaukanäle unablässig mit ihrem Geschiebe sorgen. Sichtbar als ausgedehntes braunes Band im Mündungsgebiet zum Schwarzen Meer.
Schlaraffien ist nicht der günstigste Ort um die Mys­terien des Balkans zu erkunden. Aber einen Eindruck bekommt man schon, auch wenn nicht immer klar war, ob sich Sebastian Brants Narragonien ausserhalb oder innerhalb des Luxusschiffes befand. Im Bücherschrank ein Glückstreffer: Richard Wagners «Der leere Himmel.» [1] Im rumänischen Banat geboren, zeitweise mit der Nobelpreisträgerin Herta Müller verheiratet, liefert der Autor das Psychogramm eines gequälten Territoriums. «Der Balkan hat viel mit uns zu tun. Mehr als wir denken, und mehr als wir zu denken bereit sind», so der der Schriftsteller, der in Berlin lebt.
erhard.taerna[at]saez.ch
1 Richard Wagner, Der leere Himmel – Reise in das Innere des ­Balkan, Aufbau Verlag, 2005