Replik auf den Beitrag von Radu Tutuian und Werner Inauen [1]

Weitwinkel- statt Teleobjektiv: Patienten im Fokus der HSM-Debatte!

Tribüne
Édition
2018/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06676
Bull Med Suisses. 2018;99(1920):631-632

Affiliations
a Prof. Dr. med. MHS, FEBS, Klinik für Medizinische Onkologie & Hämatologie, Facharzt für Medizinische Onkologie und Chirurgie, speziell Viszeralchirurgie, Kantonsspital St. Gallen, Mitglied FMH; b Dr. med., MSc, Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Endokrin- und Transplantationschirurgie; c Dr. med., Klinik für Medizinische Onkologie & Hämatologie, Kantonsspital St. Gallen; d Prof. Dr. med., MBA, Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Endokrin- und Transplantationschirurgie; e Prof. em., Klinik für Medizinische Onkologie & Hämatologie, Kantonsspital St. Gallen; f Dr. med., Krebsregister St. Gallen-Appenzell

Publié le 09.05.2018

Wir danken unseren geschätzten Kollegen Radu Tutuian und Werner Inauen [1] bestens für Ihr Interesse an unserer unlängst im Swiss Medical Weekly erschienenen Publikation [2]. Gerne nehmen wir hiermit dazu Stellung:
Unsere Publikation basiert auf einer retrospektiven Analyse prospektiv erfasster Daten des Bundesamtes für Statistik und ist keine randomisierte Studie. Somit finden sich zwingend gewisse Ungleichheiten bei Pa­tientencharakteristika und Operationen. Allerdings haben wir für diese Differenzen bestmöglich mittels multivariabler Analyse und – als verfeinerte Methode – Propensity Score Matching statistisch adjustiert. In unserer Studie finden sich kleine Spitäler mit tiefer postoperativer Mortalität wie auch grössere Spitäler mit hoher postoperativer Sterberate. Im Gesamtkollektiv aber kann eine klinisch relevante und statistisch signifikante Korrelation von grosser operativer Erfahrung und tiefer Sterberate postuliert werden [2].
Die Kollegen Tutuian und Inauen vergleichen in der Abbildung 2 die Mortalitätsdaten nach Pankreaskarzinomresektion unserer Studie mit jenen von Birkmeyer et al. [3] und konstatieren, dass die Sterberaten in den niedrig-volumigen Schweizer Spitälern vergleichbar tief sind wie jene der grösseren US Zentren. Hierbei handelt es sich allerdings um zwei sehr unterschiedliche Zeitperioden (Birkmeyer: 1994–1999 versus unsere Studie: 1999–2012). Ein solcher Vergleich ist somit fragwürdig.
Die Autoren plädieren dafür, den Zylinder aus einer zweiten Perspektive zu betrachten. Wir sind einverstanden, dass ein Perspektivenwechsel oft mit einem erheblichen Erkenntnisgewinn einhergeht. Allerdings möchten wir unsere Kollegen Tutuian und Inauen auffordern, das Teleobjektiv mit Fokus auf unserer Pub­likation für einmal zur Seite zu legen und sich die ­Debatte um die Zentralisierung der komplexen Vis­zeralchirurgie in der Schweiz aus der Weitwinkel-Perspektive zu betrachten:
Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur weit über hundert methodisch sauber konzipierte und durchgeführte Studien inklusive systematische Reviews und Meta-Analysen, welche unmissverständlich die Assoziation von kleiner Fallzahl und hoher postoperativer Mortalität nach komplexen viszeralchirurgischen Eingriffen demonstrieren. Diese erdrückend klare wissenschaftliche Evidenz – als pars pro toto haben wir einige wenige Studien zitiert [3–12] – hat mittlerweile auch zu einer Zentralisierung komplexer viszeralchirurgischer Operationen in den USA, Kanada, Skandinavien, Grossbritannien und Holland geführt.
Dass hohe Fallzahlen komplexer viszeralchirurgischer Eingriffe mit tieferer Sterberate vergesellschaftet sind, ist ja – Hand aufs Herz – sehr intuitiv. Ein Chirurg, welcher viel operative Erfahrung hat, ist in der Regel technisch versierter und hat somit auch bessere postoperative Resultate. Der operierende Chirurg ist aber nur ein Faktor für optimale peri- und postoperative Resultate bei komplexen viszeralchirurgischen Eingriffen. In der Tat ist das gesamte Team entscheidend für den Behandlungserfolg. Zu diesem Team zählt der Anästhesist, die technischen Fachpersonen im Operationssaal, das Ärzte- und Pflegeteam auf der chirurgischen Intensivstation und der chirurgischen Abteilung. Weiter kommen den erfahrenen, rund um die Uhr verfügbaren interventionellen Radiologen und Gastroenterologen kardinale Bedeutung zu, welche gewisse Komplikationen nach komplexen viszeralchirurgischen Operationen, z.B. Blutungen oder Fisteln, interventionell radiologisch oder aber ­endoskopisch beheben können, ohne dass zwingend eine risikohafte und potentiell komplikationsträchtige chirurgische Reexploration notwendig ist. Ein «Hochvolumen-Chirurg» in einem «Niedrig-­Volumenspital» hat in der Tat nicht die gleich guten postoperativen Resultate, wie wenn derselbe Chirurg an einem grossen medizinischen Zentrum tätig ist.
Der Erstautor dieses Artikels hat einen zweijährigen kli­nischen Fellowship in Chirurgischer Onkologie an der Universität Toronto in Ontario/Kanada absolviert. Die Provinz Ontario umfasst knapp doppelt so viele Einwohner (etwas über 14 Mio.) wie die Gesamtbevölkerung der Schweiz und ist bezüglich Fläche fast 25 Mal grös­ser. Während in der Schweiz in den vergangenen Jahren stets über 50 Spitäler Pankreasresektionen durchgeführt haben, gibt es in Ontario ausschliesslich zehn designierte Zentren für hepato-biliäre Chirurgie. Auf die Greater Toronto Area mit über 6 Millionen Einwohnern entfallen dabei sogar nur vier designierte ­hepato-biliäre Zentren, was in einer enormen Konzentration dieser komplexen viszeralchirurgischen Operationen resultiert. Auf der Website cancercareontario.ca [13] ist zu lesen: «Access to care close to home is important for all patients in Ontario, but this must be ­balanced by the need for high-quality and expert care. Hepato-biliary pancreatic surgery is very complex. Successful out­comes such as fewer deaths and complications (post-surgical mortality and morbidity) are linked to the number of surgeries performed and to surgical training and hospital resources». Der Erstautor dieses Artikels hat während seines Fellowships oft erlebt, dass Patienten mit Pankreas- oder Oesophaguskarzinomen mehrere hundert Kilometer weit nach Toronto reisten, um dort die optimale medizinische Betreuung in einem Zentrumsspital zu erhalten.
Es lohnt sich, einmal auf der Website des Bundesamts für Gesundheit (BAG) nach «Qualitätsindikatoren» zu suchen und diese in verschiedenen Schweizer Spi­­tälern abzurufen. Auf dieser Webseite können – für jedermann einfach und nicht passwortgeschützt ersichtlich – die Anzahl Operationen (z.B. Pankreasresektionen oder Oesophagusresektionen) pro Spital und Jahr [14] wie auch die postoperative Sterberate [15] ­eingesehen werden. Nach kurzem Surfen wird dem ­Betrachter klar, dass die Unterschiede der operativen Volumina wie auch der postoperativen Sterberaten ­eklatant sind. Bei «Pankreasresektionen insgesamt» findet man für das Jahr 2016 – das aktuellste auf der BAG-Webseite – dass insgesamt 53 verschiedene Schweizer Spitäler solche Eingriffe durchgeführt haben. Davon haben 25 Spitäler im Jahre 2016 weniger als 5 Pankreasresektionen und 18 Spitäler gar nur eine einzige Pankreasresektion durchgeführt. Dies kann nicht in einer optimalen Patientenversorgung resultieren, was sich dann auch in den dramatisch unterschiedlichen Raten postoperativer Mortalität widerspiegelt, welche von 0% bis über 20% reichen!
Es steht ausser Zweifel, dass in der Schweiz die post­operative Mortalität nach hochkomplexen viszeral­chirurgischen Eingriffen, welche bezüglich des operativen Gesamtvolumens ja nur einen kleinen Anteil 
im tiefen einstelligen Prozentbereich ausmachen, mit einer gewissen Zentralisierung gesenkt werden könnte. Diese Zentralisierung und die Mindestfallzahlen sind aktuell Gegenstand einer Debatte im HSM-Fachorgan.
Wir möchten an dieser Stelle unterstreichen, dass wir die zentrale Patientenbetreuung für viele andere medizinische Aspekte als nicht erstrebenswert erachten, z.B. die Chemotherapieverabreichung für Karzinom­patienten – speziell im palliativen Setting – kann gut dezentral durchgeführt werden. Ein kurzer Anfahrtsweg ist in dieser Situation bei Patienten, welche oft von Fatigue, Nausea und Inappetenz geplagt sind, von relevantem Vorteil.
Wir teilen die Meinung unserer Kollegen Radu Tutuian und Werner Inauen, dass die Entwicklung von Versorgungsnetzwerken in der Schweiz von kardinaler Bedeutung ist, speziell in der Onkologie. Die Prävalenz onkologischer Patienten wird in den kommenden Dekaden dramatisch ansteigen aufgrund der bekannten demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft und der immer besser und länger wirksamen Onkologika. Diese rasch steigende Fülle von Patienten können wir medizinisch nur optimal versorgen, wenn kleine und grosse Spitäler, periphere und Zentrumspitäler bestmöglich zusammenarbeiten!
Prof. Dr. med. Ulrich Güller, MHS, FEBS
Stv. Chefarzt
Klinik für Medizinische Onkologie & Hämatologie
Kantonsspital St. Gallen
ulrich.gueller[at]kssg.ch
 1 Tutuian R, Inauen W. Hochspezialisierte Viszeralchirurgie in regionalen Spitälern: Nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Schweiz Ärztezeitung. 2018;99(19–20):628–30.
 2 Güller U, Warschkow R, Ackermann C, et al. Lower hospital volume is associated with higher mortality after esophageal, gastric, pancreatic and rectal cancer resection. Swiss Med Wkly 2017; 147: w14473.
 3 Birkmeyer JD, Siewers AE, Finlayson EV, et al., Hospital volume and surgical mortality in the United States. N Engl J Med 2002; 346(15): 1128–37.
 4 Pasquer A, Renaud F, Hec F, et al. Is centralization needed for esophageal and gastric cancer patients with low operative risk? A Nationwide Study. Ann Surg 2016; 264(5): 823–30.
 5 van der Geest LG, van Rijssen LB, Molenaar IQ, et al; Dutch Pancreatic Cancer Group. Volume-outcome relationships in pancreatoduodenectomy for cancer. HPB (Oxford). 2016; 18(4): 317–24.
 6 Aquina CT, Probst CP, Becerra AZ, et al. High volume improves outcomes: The argument for centralization of rectal cancer surgery. Surgery 2016; 159(3): 736–48.
 7 Mamidanna R, Ni Z, Anderson O, et al. Surgeon volume and cancer esophagectomy, gastrectomy, and pancreatectomy: A population-based study in England. Ann Surg 2016; 263(4): 727–32.
 8 Markar SR, Karthikesalingam A, Thrumurthy S, et al. Volume-outcome relationship in surgery for esophageal malignancy: systematic review and meta-analysis 2000-2011. J Gastrointest Surg 2012; 16(5): 1055–63.
 9 Henneman D, Dikken JL, Putter H, et al. Centralization of eso­pha­gec­to­my: how far should we go? Ann Surg Oncol 2014; 21(13): 4068–74.
10 Gooiker GA, van Gijn W, Wouters MW et al. Systematic review and meta-analysis of the volume-outcome relationship in pancreatic surgery. Br J Surg 2011; 98: 485–94.
11 Fuchs HF, Harnsberger CR, Broderick RC, et al. Mortality after eso­phagectomy is heavily impacted by center volume: retrospective analysis of the Nationwide Inpatient Sample. Surg Endosc 2017; 31: 2491–97.
12 Huo YR, Phan K, Morris DL, et al. Systematic review and meta-anal­y­sis of hospital and surgeon volume/outcomes relationships in colorectal cancer surgery. J Gastrointest Oncol 2017; 8 (3): 434–46.