Die Psychiatrie ist ein medizinisches Fach

Tribüne
Édition
2018/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06559
Bull Med Suisses. 2018;99(23):772-774

Affiliations
a Prof. Dr. med, Ordinaria für Psychiatrie der Universität Basel, Klinikdirektorin Erwachsenenpsychiatrie und Privatklinik, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel (UPK), Mitglied FMH; b Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und für Allgemeinmedizin, Co-Präsident Kommunikation der Verbindung der psychiatrisch-psychotherapeutisch tätigen ÄrztInnen der Schweiz (FMPP)

Publié le 06.06.2018

Es ist normal, dass körperliche ­Erkrankungen zu psychischen Diagnosen führen

Aktuelle epidemiologische Studien besagen, dass 50% der Menschen im Lauf ihres Lebens eine psychiatrische Diagnose haben, in einer internationalen WHO- Studie zeigte sich, dass etwa ein Drittel der PatientInnen, die zu ihrem Hausarzt gehen, explizit psychische Symptome äussern; wenn man sie aktiv befragt, erfüllen weitere 10% die Diagnosekriterien einer psychischen Erkrankung [1].

Résumé

Les affections psychiques touchent souvent les personnes malades physiquement. Il est essentiel de traiter leurs symptômes psychiques, car le psychisme influence le déroulement et le pronostic de la maladie physique.
Les symptômes psychiques sont souvent le premier signe d’une maladie physique sévère. Dans l’ensemble, les médicaments psychiatriques sont en moyenne d’une efficacité comparable à celle d’autres médicaments et agissent pour certains sur les symptômes physiques de même qu’une partie des médicaments de médecine interne agit sur le psychisme. Le traitement le plus efficace est celui associant mesures médicamenteuses et psychothérapeutiques. La psychothérapie est aujourd’hui tout aussi efficace que le pontage coronarien, par exemple. Ces dernières années, l’attention scientifique dont elle est l’objet, son importance dans la thérapie et les spécialisations qu’elle propose se sont renforcées. Le traitement psychothérapeutique de symptômes physiques est couronné de succès. Un rapprochement plus étroit entre la psychiatrie et les autres disciplines médicales serait avantageux pour les deux parties et surtout pour les patientes et patients concernés. Une équivalence générale de la médecine somatique et psychiatrique dans la formation médicale ainsi que dans les soins stationnaires et ambulatoires est indispensable pour atteindre cet objectif. L’intégration de la prise en charge psychiatrique dans les hôpitaux, universitaires et autres, avec des parcours de soins interdisciplinaires courts adaptés est nécessaire.
Ein grosser Teil der Menschen, die in Allgemeinkrankenhäusern behandelt werden, hat entsprechend eine akute psychische Störung. Bis zu 50% der Menschen mit einem Diabetes leiden unter einer Depression, bis zu 30% derjenigen, die einen Schlaganfall ­erlitten haben, bis zu 30% der Menschen mit Schilddrüsenerkrankungen, bis zu 40% der onkologischen Patienten, bis zu 30% derjenigen mit einer Herz-Kreislauf-Erkrankung und bis zu 30% der neurologischen ­Patienten [2]. Bei 10–30% der älteren Patienten, die in ein Allgemeinkrankenhaus eintreten, liegt ein Delir vor, und während der Behandlung entwickeln ca. 30% der über 70-Jährigen und bis zu 60% der postoperativen Patienten ein Delir [3]. Bei ca. 14% der internistischen und chirurgischen Patienten liegt die Diagnose einer Alkohol­abhängigkeit vor [4]. Es ist also häufig, dass psychische Erkrankungen bei Menschen vorkommen, die körperlich krank sind.
De facto führen psychische Erkrankungen umgekehrt ebenfalls zu einem stark erhöhten Risiko für körper­liche Erkrankungen und verschlechtern bei bereits bestehenden körperlichen Krankheiten die Prognose. So verdoppelt sich das Risiko für Diabetes, Demenz, Epilepsie, Herzkreislauf- oder Krebserkrankungen oder 
M. Parkinson, wenn eine Depression vorliegt, und die Symptome, die Prognose und Mortalität verschlechtern sich, wenn die Depression unbehandelt bleibt [2, 5]. Psychische Nebendiagnosen in Schweizer Akutspitälern verdoppelten die Aufenthaltsdauer, die Rehospitalisierungsrate, die Mortalitätsrate und erhöhen den ökonomischen Ressourcenaufwand um ein Drittel [6]. Menschen, die unter einer schweren psychischen Erkrankung leiden, haben u.a. deshalb im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine bis zu 15 Jahre verkürzte Lebenserwartung [7].
Depressive Erkrankungen gehen mit Veränderungen kardiovaskulärer, entzündlicher und metabolischer Risikofaktoren einher, sie verändern beispielsweise Cortisol, CRP, Cystein, Homocystein, Adiponektin, Gewicht, Blutgerinnung, glykiertes Hämoglobin, Leptin, Interferon Gamma, HDL, Interleukine, IGF, LDL, TNF-alpha, Troponine und Triglyceride [2]. Antidepressiva haben teilweise eine prophylaktische und therapeutische Wirkung bei onkologischen Erkrankungen, Diabetes, Schlaganfall, Entzündungen und Herzkreislauf­erkrankungen [5]. Umgekehrt haben internistische Medikamente, i.e. Statine, Aspirin, NSAIDs, Pioglitazon, Celecoxib und Minocyklin, eine therapeutische Wirkung bei psychiatrischen Erkrankungen [5].
Psychische Symptome sind häufig die ersten Hinweise auf eine schwere körperliche Erkrankung. In der psychiatrischen Times wurden in einem Übersichtsartikel 
47 medizinische Erkrankungen aufgelistet, die als primäres Symptom Angst aufweisen [8]. Umgekehrt wurde in der Übersichtsarbeit eine Liste von 30 Medikamentenkategorien aufgestellt, die Angstsymptome verursachen können [9]. Depressionen sind ebenfalls häufig Vorboten medizinischer Erkrankungen, die Jahre vor der Diagnose auftreten, das gilt insbesondere für Morbus Cushing, Schilddrüsenerkrankungen, Hyper­parathyroidismus, Pankreas- und Lungenkarzinome, Herzinfarkt, Morbus Wilson und AIDS [9]. Viele Menschen, die psychiatrische Hilfe suchen, sind also medizinisch krank, und viele Menschen sind psych­iatrisch krank und suchen medizinische Hilfe. So werden beispielsweise bis zu 80% der Depressionen von Hausärzten behandelt, und eine Studie in der Notaufnahme des Montreal Heart Institute zeigte, dass ein Viertel der kardialen Patienten ausschliesslich unter Panikattacken litt. Wenn sich die Fächer Psychiatrie und Medizin voneinander entfernen, so führt das zu Fehldiagnosen und Nichtbeachtung von Komorbidität, was für die Patienten in beiden Fällen lebensbedrohlich sein kann.

Psychiatrische Therapie ist hochwirksam

Trotz kontroverser Debatten vor allem bezüglich der antidepressiven Behandlung und Demenzbehandlung kann man sagen, dass die psychiatrische Pharmako­therapie sehr erfolgreich ist und im Erfolg einer ­internistischen Therapie vergleichbar [10]. Einige ­pharmakotherapeutische Behandlungen wie etwa die Be­handlung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms, ­Trichotillomanie, Depression, Schlaflosigkeit, Methadonsubstitution, Essstörungen und Phobien zeigen sehr hohe Behandlungserfolge bei medikamentöser Therapie mit einer Effektstärke von 0,8 [10].
Eine Metaanalyse, die insgesamt 61 Metaanalysen, 852 Studien und 137 126 Studienteilnehmer einbezieht, untersucht die Wirksamkeit von Psychotherapie und Pharmakotherapie bei 21 psychiatrischen Diagnosen [11]. Insgesamt lag die Wirksamkeit hier im Schnitt bei 0,5; sie war bei der psychotherapeutischen Behandlung mit 0,58 sogar noch etwas höher als bei der pharmakotherapeutischen Behandlung [11].
Für schwere depressive Episoden, chronisch depressive Patienten, rezidivierende Depressionen sowie ältere depressive Patienten sind statistisch signifikante ad­ditive Effekte einer Kombinationstherapie gegenüber einer alleinigen Psychotherapie oder einer alleinigen Pharmakotherapie nachgewiesen worden [12]. Patienten, die psychotherapeutisch behandelt werden, weisen im Vergleich zu Patienten, die nur pharmakotherapeutisch behandelt werden, signifikant geringere Rückfallraten auf [13].
Patienten weisen bei einer Kombinationstherapie aus Antidepressiva und Psychotherapie weiterhin eine ­höhere Medikamentencompliance auf, brechen weniger häufig die Behandlung ab, kooperieren besser, nehme­n weniger zusätzliche Behandlungsangebote in ­Anspruch, zeigen eine höhere soziale Anpassung und erreichen längerfristig die günstigsten Ergebnisse hinsichtlich der Rezidivhäufigkeit [14].
In den letzten Jahren wurden unterschiedlichste Psychotherapieverfahren intensiv wissenschaftlich beforscht und haben sich als hochwirksam erwiesen, so ist etwa Psychotherapie bei Angsterkrankungen etwa vergleichbar wirksam wie eine Bypasschirurgie [10]. Im Rahmen der Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie wurden in den vergangenen zehn ­Jahren die Methoden der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) und der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie entwickelt.
ACT wurde auch bei verschiedenen chronischen körperlichen Erkrankungen untersucht und verbesserte Adhärenz, Symptome und Outcome bei Epilepsie, Multipler Sklerose, HIV, Diabetes, chronischem Schmerz sowie kardialen Patienten [15].
In den oftmals komplexen somato-psychischen und psychosomatischen Wechselwirkungen ist ein fundiertes medizinisches Wissen unerlässlich für eine ­sichere und qualitativ hochstehende Diagnostik und Behandlung sowie die enge Bindung der Psychotherapie an die Medizin, wie es in der Psychiatrie sein sollte.

Komplementärmedizin und Prävention gewinnen an Bedeutung

Prävention und Früherkennung werden eine grössere Rolle spielen, da das Auftreten von psychischen Erkrankungen einen immer wichtigeren Faktor in der Gesellschaft darstellen wird. In diesem Kontext zeigte sich in den letzten Jahren, dass bei sämtlichen psychischen Erkrankungen die Ernährung eine Rolle spielen könnte; eine Ernährungsumstellung bei einer klinischen Depression bewirkte beispielsweise einen bis zu 30%igen Symptomrückgang [16]. Die Durchführung ­eines strukturierten und supervidierten körperlichen Trainings wird in den Behandlungsleitlinien sämt­licher psychischer Erkrankungen, aber insbesondere der Depression, empfohlen [17]. Lichttherapie gilt als Behandlung der ersten Wahl bei saisonal abhängigen ­Depressionen [18], hilft aber auch bei vielen anderen Störungen.

Psychiatrische Therapie ist nicht teuer und lohnt sich

In der EU werden die Kosten durch depressionsbedingten Absentismus am Arbeitsplatz auf ca. 75 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt, Depressionen kosten damit den Arbeitgeber doppelt so viel wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen [19]. In der Schweiz liegen die Kosten für Depressionen am Arbeitsplatz bei ca. 8 Milliarden CHF pro Jahr [20]. Eine effektive Behandlung einer Depression in der Schweiz kostet im Schnitt ca. 10 000 CHF und ist damit günstiger als die finanziellen Belastungen durch die Ausfälle am Arbeitsplatz, die durch eine – unbehandelte – Depression im Schnitt entstehen (ca. 13 000 CHF) [20].
Eine europaweite Studie hat die ökonomische Effektivität eines Screenings am Arbeitsplatz untersucht und kommt zu dem Schluss dass die Früherkennung von Depressionen durch ein Screening-Instrument für einen Arbeitgeber kosteneffektiv ist, was sowohl für eine günstigere Pharmakotherapie als auch für eine teurere Psychotherapie gilt [19]. De facto war die Psycho­therapie­option in dieser Studie zwar teurer als die Pharmakotherapie, zeigte aber über den Zeitraum von 
27 Monaten eine bessere Kosteneffektivität, da sie die sogenannten QALYS (Quality Adjusted Life Years) positiver beeinflusste [19].
Vorschläge möglicher Modellprojekte für eine bessere Kooperation zwischen der Psychiatrie und anderen medizinischen Fächern
– Integration psychiatrischer Abteilungen in somatische Spitäler mit einer gemeinsamen (internis­tischen und psychiatrischen) interdisziplinären Leitung
– Erhöhung der internistischen bzw. allgemein­medizinischen Kompetenz von psychiatrischen Fach­ärzt­Innen oder etwa der psychiatrischen Kompetenz von Hausärzten mit beispielsweise gemeinsamen Stellenangeboten (Rotationsstellen) im Rahmen der ärztlichen Weiterbildung
– Wechselseitiger Ausbau psychiatrischer Konsil- und Liaisondienste in somatischen Spitälern und internistischer Konsil- und Liaisondienste in psychiatrischen Kliniken.
Es liegt kein Interessenkonflikt der Autoren vor.
Korrespondenz
Prof. Dr. Undine Lang
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel (UPK)
Universität Basel
Wilhelm Klein-Str. 27
CH-4002 Basel
Tel. 061 325 52 00
Undine.lang[at]upkbs.ch
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