Verbesserungspotential in unserem Gesundheitswesen

Es wird zu viel operiert

Tribüne
Édition
2018/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06451
Bull Med Suisses. 2018;99(22):727-729

Affiliations
Dr. med. Dr. phil., Facharzt für Rheumatologie, Physikalische Medizin und Rehabilitation, Mitglied FMH

Publié le 30.05.2018

Viele Ärzte, auch erfahrene Chirurgen und Orthopäden, sind heute der Ansicht, in unserem Lande werde zu viel und oft mit ungenügender Indikation operiert. Viele sind der Ansicht, neben der zunehmenden Alterung der Bevölkerung und dem technischen Fortschritt in der Medizin sei auch die Überarztung ein wichtiger Grund für das stetige Anwachsen der Gesundheitskosten.

Fakten und Zahlen

Résumé

De nombreux médecins, parmi lesquels des chirurgiens et orthopédistes expérimentés, estiment que dans notre pays, on opère trop et souvent malgré des indications insuffisantes. Beaucoup sont d’avis qu’outre le vieillissement croissant de la population et les progrès techniques en médecine, la polypragmasie est un autre facteur important de l’envolée incessante des coûts de santé. L’auteur dresse un bilan et propose des pistes de solutions.
In der Fernse hsendung «Puls» von SRF 1 vom 31. 10. 2015 wurde berichtet, dass gemäss Bundesamt für Statistik die Anzahl der Bandscheibenoperationen in der Schweiz zwischen 2007 und 2014 von 8653 auf 14 859, also um rund 70 % zugenommen habe. Dafür gibt es keine medizinisch plausible Erklärung. Auch im benachbarten Deutschland gibt es offenbar vergleichbare Entwicklungen. Im Fernsehprogramm «Das Erste» wurde am 14. 12. 2012 von den interviewten Ärzten die Ansicht geäussert, dass von den jährlich rund 160 000 Rückenoperationen in Deutschland ca 40% überflüssig seien. Und auf «Phoenix» wurden diese Verhältnisse am 13. 4. 2018 zahlenmässig ausführlich dargestellt.
Gemäss Sonntagszeitung vom 19. 5. 2014 hat sich die Zahl der Meniskusoperationen in unserem Lande im Verlaufe von 10 Jahren nahezu verdoppelt, 2012 wurden 18 364 Knie-Patienten operiert. Nur bei einem Drittel dieser Patienten hat eine eigentliche Knie­verletzung vorgelegen. Die Hälfte aller Knieoperationen war dementsprechend gemäss Autor unnötig. Es ist unstrittig, dass bei einem Knie, welches nach ­einem Unfall einen Rotationsschmerz und eine Blockierung aufweist, unter der Verdachtsdiagnose einer Meniskusläsion eine Operation erwogen werden muss. Heute werden aber oft muskulär bedingte [1] oder degenerative [2] Knieschmerzen arthroskopiert und, da man an den Menisken oft kleine Schäden findet, operiert. Sehr oft ohne Besserung der Schmerzen. In Deutschland werden Arthroskopien bei degenerativen Knieschmerzen seit einiger Zeit nicht mehr vergütet.
Wir neigen eigentlich dazu, solche Ausweitungen der Operationsindikationen mangelnden Kenntnissen bei den Operateuren darüber anzulasten, über welche diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten Manualmedizin und Physiotherapie heute verfügen. Die Tatsache allerdings, dass einer Studie des Bundesamtes für Gesundheit gemäss, Patienten, die privat oder halbprivat versichert sind, 2,2-mal häufiger am Knie operiert werden als grund­versicherte Personen (NZZ 29. 12. 2017), könnte nahe­legen, dass hier auch noch andere Motive als nur Unkenntnis eine Rolle spielen. Bedenklich ist vor allem, dass in gewissen privaten und öffentlichen Spitälern bei der Bud­get­planung Vorgaben gemacht werden, wie viele Opera­tionen im kommenden Jahr durchgeführt werden sollten, und dass an Operateure, welche diese Zahlen erreichen, Boni ausbezahlt, im gegenteiligen Fall jedoch Nachteile in Aussicht gestellt werden. Man vergesse nicht, dass die Zahl der Orthopäden in der Schweiz zwischen 2000 und 2016 von 542 auf 1089 (also um 100%) zugenommen hat, die Zahl der Neurochirurgen im gleichen Zeitraum von 71 auf 113 (FMH-Ärztestatistik).

Die neuen Schmerztherapien der ­Physiotherapie

Wir haben Rückenschmerzen (ausser grippalen Infekten die häufigste Krankheit überhaupt) und Knieschmerzen als Beispiele gewählt, bei welchen wir ­konservative und operative Therapiemöglichkeiten gegeneinander abwägen. 1983 haben die amerikanischen Ärzte Janet Travell und Dave Simons die Monographie «Myofascial Pain and Dysfunction» publiziert [3]. Darin weisen die Autoren nach, dass bei einer Mehrzahl von Bewegungsapparat-Schmerzen die primäre Schmerzursache in der Muskulatur entsteht. Überlastungen und traumatische Überdehnungen können in einem Muskel lokale Kontrakturen hinterlassen, die zu einem ischämischen Schmerz führen, der lokal und/oder fortgeleitet verspürt wird. Diese lokalen Kontrakturen (myofasziale Triggerpunkte) lassen sich mit manuellen Techniken, mit Dry Needling oder mit fokussierten Stosswellen beseitigen. Der Patient kann dabei von ­seinen akuten oder chronischen Schmerzen befreit werden. Bei Rückenschmerzen dürften es rund 80% der Patienten sein, deren Schmerzen ein sogenanntes unspezifisches, unserer Ansicht nach ein myofasziales, Problem zu Grunde liegt. Knieschmerzen resultieren häufig aus Überlastungen des Quadriceps (vor allem durch exzentrischen Belastungen). Manche Meniskusoperationen werden ganz einfach auch bei beginnenden Gonarthrosen durchgeführt. Eine grosse Zahl der Rücken- und Knieschmerzen resultiert also aus Störungen, die operativ gar nicht behandelbar sind. Die neuen konservativen Therapiemethoden breiten sich heute weltweit aus und werden in der Schweiz an den Fachhochschulen unterrichtet. Ihre Wirksamkeit wird durch eine Reihe von guten Studien belegt [4–9].

Grosses Verbesserungspotential

Bundesrat und Parlament prüfen zur Zeit Massnahmen, welche die überproportionale Kostenausweitung im Gesundheitswesen zu korrigieren versuchen. Sie wären gut beraten, wenn sie nicht einfach flächendeckend allen Ärzten in unserem Land ihr Einkommen reduzieren, sondern Massnahmen priorisieren würden, welche kostentreibende Fehlentwicklungen kor­rigieren und die Qualität unserer Medizin steigern können. Wir empfehlen zwei Massnahmen, die mehr Einsparungspotential haben dürften, als was in der ­Politik bisher erwogen wurde.
Hart, aber wirksam wäre eine Änderung des Strafgesetzes (StGB) durch den Einschub eines Artikels, der den Spitalbetreibern verbieten würde, auf die Zahl und die Indikation von Operationen irgendeinen Einfluss auszuüben. Eine zweite ebenfalls sofort wirksame Massnahme wäre, den Schmerzpatienten einen beschränkten Direktzugang zur Physiotherapie zu gewähren. Ein solcher Direktzugang besteht heute schon in Schweden, Norwegen, den Niederlanden, Kanada und in 45 Staaten der USA. Überall wird berichtet, dass die Behandlungszahlen nicht zugenommen hätten, dass die Kosten markant gesunken seien und dass die Patientenzufriedenheit sich verbessert habe.

Physiotherapie als Alternative zu ­Operationen

Das Swiss Medical Board hat in seiner Studie «Ope­rative versus konservative Behandlung von Diskus­hernien» [10] vom Februar 2015 erstmals ein Krankheitsbild untersucht, das sowohl in den Bereich der Neurochirurgie als auch in denjenigen der Physio­therapie gehört. Es hat bei akuten und subakuten Fällen von Diskushernien mittleren Schweregrades die Re­sultate nach 3 Monaten und 2 Jahren hinsichtlich Funktionseinschränkungen, radikulären Schmerzen, Rückenschmerz und Patientenzufriedenheit bei operativer und konservativer Behandlung miteinander verglichen. Bei einer Nachbeobachtungszeit von 3 Monaten waren die Ergebnisse beim primär operativen Therapieansatz moderat, aber statistisch signifikant besser. Gegen den Nachbeobachtungszeitpunkt von 2 Jahren gleichen sich die Ergebnisse an. Für die Lebensqualität gab es zu keinem Zeitpunkt einen statistisch signifikanten Unterschied.
Für die Abschätzung des Kosten-Effektivitäts-Verhältnisses benützten die Autoren auch vier Studien aus den Niederlanden und den USA. Für die Kostenbeurteilung wurden sowohl die Kosten der obligatorischen Krankenversicherung als auch die indirekten Kosten berücksichtigt, also unter anderem auch die Kosten der Arbeitsunfähigkeit. In die Schlussberechnung wurden 2418 Patienten einbezogen. Für diese Patienten wurden für die Bevorzugung der operativen gegenüber der konservativen Therapie Mehrkosten von 18 Millionen Franken errechnet. Für die Schlussbeurteilung ­waren die WZW-Kriterien nach KVG-Art 32 massgebend. Die Autoren schliessen, dass infolge der Komplexität der Therapieverläufe «sichere Aussagen über die Wirksamkeit rein operativer oder rein konservativer Therapien nicht möglich sind. Bezüglich der beiden Therapieansätze kann immerhin davon ausgegangen werden, dass beide wirksam sind.» Weiter: «Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkte bestehen bei operativen Massnahmen signifikante Zusatzkosten. Sind beide Therapieansätze zweckmässig, ist daher eine konservative Therapie zu wählen …».
Aus den durch das Bundesamt für Statistik errech­neten und in der Sendung «Puls» ausgestrahlten Verhältnissen, dass in der Schweiz die Anzahl der Bandscheibenoperationen zwischen 2007 und 2014 um 70% zugenommen haben, lässt sich schliessen, dass heute in unserem Lande auch Bandscheibenvorfälle mit leichten Symptomen wie auch Patienten aus dem Pool der unspezifischen Rückenschmerzen (der nach allgemeiner Lehrmeinung etwa 80% aller Rückenschmerzen umfasst) operiert werden. Umso mehr ist die Empfehlung des Swiss Medical Board ernst zu nehmen, dass die konservative (physiotherapeutische) Behandlung von Rückenschmerzen gegenüber der operativen gestärkt werden muss.

Veränderungen, auf die reagiert werden sollte

Das Durchschnittsalter der als Hausärzte arbeitenden Fachärzte für Allgemeine Medizin und Innere Medizin liegt heute in der Schweiz bei mehr als 55 Jahren. Bei den jungen Hausärzten steigt vor allem die Zahl der Frauen, die oft Teilzeit arbeiten. Das On-Line Portal Medinside rechnet, dass nach 2025 die Grundversorgung in der Schweiz zu weniger als 50% gesichert ist: es fehlen bis in wenigen Jahren 4000 Hausärzte. In dieser Situation drängt es sich auf, die Hausärzte zu entlasten, die bisher die Indikation für eine physiotherapeutische Behandlung gestellt haben.
Der Direktzugang der Patienten zur Physiotherapie würde verhindern, dass sich die Patienten in Zukunft direkt an die operativ tätigen Spezialisten wenden, dass die Weiterabklärung mit Röntgenbildern und ­Laboruntersuchungen der kleinen Minderheit der ­Patienten vorbehalten bleibt, deren Schmerzursachen spezifischer und komplexer Natur sind, und dass keine Patienten operiert werden, denen auch mit den billigeren Methoden der Physiotherapie geholfen werden kann. Die heutige Ausbildung der Physiotherapeuten gewährleistet, dass Patienten, deren Symptome auf eine der seltenen Krankheiten ernsterer Natur hinweisen, zuverlässig erkannt und sofort einem Arzt überwiesen werden. Wenn ein Patient nach einer oder zwei 9er-Serien von Therapiesitzungen nicht beschwerdefrei geworden ist, sollte er gesetzlich vorgeschrieben an einen Arzt überwiesen werden.
Dr. med. Dr. phil. Beat Dejung
Facharzt für Rheumatologie,
Physikalische Medizin und
Rehabilitation
Rychenbergstrasse 40
CH-8400 Winterthur
elke.beat.dejung[at]
bluewin.ch
 1. Henry R, et al (2012): Myofascial pain in patients waitlisted for total knee arthroplasty, Pain Res Manag 17/5
 2. Kälin R, et al (2018): Behandlung degenerativer Meniskusläsionen, Swiss Med Forum 7/18
 3. Travell J, Simons DG: Myofascial Pain and Dysfunction, Vol 1 1983 / Vol 2 1999, Williams & Wilkins, Baltimore
 4. Licht G, et al (2007): Untersuchung myofaszialer Triggerpunkte ist zuverlässig, Man Med 45/6
 5. Gunn CC, et al (1980): Dry needling of muscle motor points for chronic low back pain, Spine 5/3
 6. Dejung B (1999): Die Behandlung unspezifischer chronischer Rückenschmerzen mit manueller Triggerpunkt-Therapie, Man Med 37/3
 7. Itho K, et al (2007): Randomised trial of trigger point acupuncture compared with other acupuncture for treatment of chronic neck pain, Compl Ther Med 15/3
 8. Hains G, et al (2010): Chronic shoulder pain of myofascial origin: a randomized clinical trial using ischemic compression therapy, J Manipulativ Physiol Ther 33/5
 9. Ferragut-Garcias A, et al (2017): Effectivness of a treatment involving soft tissue techniques and/or neural mobilization techniques in the management of tension-type headache: a randomized controlled trial, Arch Phys Med Rehabil 98/2
10. Swiss Medical Board: Operative versus konservative Behandlung von Diskushernien, Februar 2015.