Irreführende und gefährliche Fehlinterpretationen

Briefe / Mitteilungen
Édition
2018/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06381
Bull Med Suisses. 2018;99(03):60-61

Publié le 17.01.2018

Irreführende und gefährliche Fehl­interpretationen

Brief zu: Gurtner B. Im Notfall bitte ein Männerteam! Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(28–29):924–5.
Interessiert haben wir den Artikel «Im Notfall bitte ein Männerteam!» gelesen, welcher nach Veröffentlichung eines schlagzeilenträchtigen Artikels im Journal of Critical Care Medicine (CCM) erschien [1]. Es hat uns sehr gefreut, dass es kritische Stimmen gibt, welche die unbe­dacht formulierte Pressemitteilung der Universität Basel hinterfragen. Die zahlreichen Beiträge in verschiedenen Medien weltweit (https://wolterskluwer.altmetric.com/detai­ls/19744195/news) mussten wir mit Bedenken zur Kenntnis nehmen. Wir sind mit dem Autor einverstanden, dass die Ergebnisse der Originalstudien verallgemeinert und von den Medien missinterpretiert wurden. Infolgedessen wurden irreführende und gefährliche Schlagzeilen (z.B. «Women may be hopeless in saving lives») in zahlreichen medizinischen Fachzeitschriften und nicht-medizinischen Medien veröffentlicht, die weibliche Ärztinnen in Misskredit bringen. Solche Schlussfolgerungen sind falsch und können in dieser Form nicht abgeleitet werden [1]. Nun hat das Journal of CCM unsere kritische Hinterfragung der Interpretation der Ergebnisse der Originalstudie publiziert [2]. Ergänzend zu Herrn Dr. Gurtners Artikel würden wir gerne weitere Kritikpunkte anfügen, welche für die Interpretation der Originalstudie von Amacher et al. unbedingt berücksichtigt werden müssen.
Trotz im Titel angekündigter Untersuchung von «Cardiopulmonary rescue teams» wurden in der Studie keine richtigen Notfallteams unter­sucht, sondern ausschliesslich medizinische Studententeams. Daher können die Ergebnisse nur auf Medizinstudenten (und das Studium) und nicht auf ausgebildete Ärztinnen und Ärzte übertragen werden.
In der Studie fehlt, mit Ausnahme des Geschlechts, eine Beschreibung der untersuchten Studienteilnehmer (Alter, Bildungshintergrund, vorangegangene Erfahrungen, Aus­bil­dung in Notfallmedizin). Die Studie wurde in der Schweiz durchgeführt, wo die meisten männlichen Studenten vor dem Studium Militärdienst absolvieren. Dort können sie einen ­Befehlston erlernen, den die Autoren in Notfallsituationen als vorteilhaft einschätzen. Viele zukünftige männliche Studenten werden dort zu Rettungssanitätern ausgebildet, was ihnen Vorteile im Bereich Notfallmedizin im Vergleich zu ihren Kolleginnen bringt. Obwohl diese Tatsachen die Gültigkeit der Ergebnisse beeinflussen könnten, wurden diese in der Originalstudie weder statistisch kontrolliert noch diskutiert [1].
Medizinstudenten in der Schweiz im 4. [1] von 6 Jahren haben wenig Arbeitserfahrung und Gelegenheit, erfahrene Teamleader, männlich oder weiblich, als Vorbilder für effektive Teamführung zu beobachten. Wir wissen nicht, ob der beobachtete Geschlechtsunterschied nach dem Medizinstudium andauert. Daher haben wir schwere Bedenken im Hinblick auf die Verallgemeinerung der Ergebnisse auf Teams bestehend aus ausgebildeten Ärzten und Pflegekräften. Die Hauptschlussfolgerung der Autoren ist irreführend: «A cardiac arrest situation should therefore favour males as primary leaders» (p. 5) [1]. Wir denken, dass solche Zitate und die Fehlinterpretation und Verallgemeinerung der Studienergebnisse gefährlich sind, weil sie negative Auswirkungen auf das Selbst- und Fremdbild von Ärztinnen in der Gesellschaft haben. Wir befürch­ten eine unbegründete Diskriminierung von Ärztinnen.
Dass solche missverständlich dargestellten Tatsachen von den Medien unkritisch übernommen und publiziert werden, ist unserer Meinung nach nicht akzeptabel.