Container Kinder

Horizonte
Édition
2018/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06330
Bull Med Suisses. 2018;99(05):163

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 31.01.2018

Draussen lauern böse Menschen, kranke Tiere, Zecken und Unfälle. Eine Umfrage der Pro Juventute bei Eltern von Kindern zwischen fünf und neun Jahren über das Spielverhalten an drei Werktagen, ergab eine unbeaufsichtigte Spielzeit von einer halben Stunde täglich. Je nach Wohnquartier, Verkehrsbelastung und sozialem Klima spielen Kinder sogar nur vier Minuten ohne Kontrolle im Freien und neun von zehn bleiben lieber in der Wohnung. Ein Viertklässler aus einer anderen Befragung: «Ich spiele lieber drinnen, weil da die Steckdosen sind.» Die Hälfte der Kindergärtler kann keinen Purzelbaum machen, andere sind überzeugt, dass Kühe einen Winterschlaf halten. Es fehlt nicht an Kampagnen wie der von Pro Juventute, die mehr Freiraum für Kinder fordert. Im letzten Jahr hat der Verkehrsklub Schweiz, VCS, Aktionswochen «walk to school» ­organisiert. Statt mit dem Mamitaxi zwei Wochen zu Fuss in die Schule. Die ausgelosten Gewinner erhielten einen Gutschein für eine Bahnreise. Viele Teilnehmer waren begeistert. Sie entdeckten Ameisenstrassen, drachenförmige Wolken und bestanden selbsterfundene Mutproben. Kinder wollen im freien, gemein­samen Spielen ihre Neugier und Lebenslust ausleben, am liebsten unbeaufsichtigt, an einem unstruktu­rierten, vergammelten Ort. Fachleute sehen zwischen ­Bewegungsmangel, fehlenden Naturerlebnissen und krankhaften Entwicklungen einen Zu­sammenhang. In der Folge werden alle Lebensbereiche medikalisiert. Übergewichtige landen in spezialisierten Ferienlagern, Depressionen und Burn-out von Jungen und Allerjüngsten in den Notfallaufnahmen der Psychiatrie. Auf der einen Seite die Helikoptereltern mit ihrem Förderwahn, Kuschelpädagogik und virtuelle Ersatzwelten, auf der anderen Seiten ein Heer von Ratgebern mit oft widersprüchlichen Empfehlungen, die zusätzlich die Erzieher verunsichern.
Es fehlt nicht an scharfsinnigen Analysen und klugen Vorschlägen. Der US-Amerikaner Richard Louv provozierte 2005 mit seinem Buch Last Child in the Woods eine breite Debatte, indem er den Mangel an Naturkontakten für viele kindliche Entwicklungsdefizite verantwortlich machte. Zahllose Initiativen entstanden in den USA, von Leave no child Inside, über More Kidsin the Woods bis zu Green Hour, ein Aufruf an Kinder und ­Eltern, täglich eine Stunde in der Natur zu verbringen. Als unberührte Natur gilt allgemein das, was der Mensch noch nicht in Beschlag genommen hat. Eine Restgrösse, die immer kleiner wird. Dabei geht gerne vergessen, dass wir im normalen Alltag froh sind, uns in einer domestizierten Natur unbesorgt zu bewegen. Von Naturentfremdung könnte man sprechen, wenn ein Gleichgewicht gestört ist, wenn unsere Zivilisation überhandnimmt, wenn hausgemachte Umweltpro­bleme uns schaden, technische Grössenfantasien und schrankenlose Ausbeutung unsere Grundlagen zerstören. Natur ist weder ein paradiesischer Gegenpol noch das manichäische Böse, in das wir geworfen sind. Die Natur kann es auch ohne uns temporäre Technosaurier. Würden wir uns konsequent als ein Teil von ihr begreifen und auch politisch danach handeln, würde es vielen Kindern und uns Erwachsenen besser gehen. Das Leben in einer ausschliesslich künstlichen, menschengemachten Welt überfordert. Verdichtung und Bevölkerungsdruck fördern Ausweichstrategien, wie das Einfamilienhaus im Grünen und die illusionäre Flucht in die Angebote einer gut geölten Reisemaschinerie.
Junge Menschen brauchen alterskonforme Nahzonen, die ihnen ohne Aufsicht überlassen sind und ihre Phantasie anregen. Es gibt eine Sehnsucht, die keine Generationengrenzen kennt. Vom letzten Mohikaner bis zu Winnetou, von Huckleberry Finns Mississippi zu Tschiks wildem Osten, von der roten Zora zu Pipi Langstrumpf, von der Schatzinsel zum Dschungelbuch.

Weiterführende Informationen

Richard Louv, Das letzte Kind im Wald, Herder, Taschenbuch 2013
erhard.taverna[at]saez.ch